„Pandemien halten uns den Spiegel vor“
nicht die letzte sein wird, die dieses Land und diese Generation erlebt. „Wir müssen als Staat und als Gesellschaft akzeptieren, dass Krisen zur Normalität gehören“, sagt er. „Da können wir von der Wirtschaft lernen.“In der Wirtschaft ist der Umgang mit Umwälzungen und Umbrüchen ganz normal. Krisen werden in Unternehmen mitgedacht und im Risikobericht berücksichtigt. „Eine nachhaltige Unternehmensführung beinhaltet, in der strategischen Planung mit Zukunftsszenarien – positiven wie negativen – zu arbeiten, aber auch Rücklagen zu bilden“, sagt de Maizière. Ein Zukunftsszenario, das er selbst für äußerst wahrscheinlich hält: ein länderübergreifender Blackout etwa infolge eines Cyberangriffs. Kaum auszudenken, dass Deutschland dann im gleichen Kompetenzgerangel versinkt wie heute. „Wenn wir einen großen Stromausfall haben, muss geklärt sein, welche öffentlichen Gebäude auch dann noch funktionieren müssen“, sagt der frühere Minister. „Das kann nicht jeder Landkreis für sich machen. Wir brauchen bundesweite Zuständigkeiten für national verbindliche Vorgaben.“
Aber hätte der Politik nicht auch vor Corona klar sein können, wie sehr die Strukturen zum Bremsklotz wurden? „Ich sag mal so: Der Raucher weiß auch, dass für ihn das Risiko für Lungenkrebs höher ist als für einen Nichtraucher, und hört erst dann auf, wenn er vom Arzt die Gelbe Karte bekommt“, sagt Thomas de Maizière. „Menschen verdrängen, aber sie lernen durch Krisen.“
Und: Vorsorge verschlingt Geld. „Dass Krisenvorsorge Kosten vermeiden kann, das können wir ja nicht beweisen“, sagt Thomas de Maizière. Er spricht aus Erfahrung. Als er im Sommer 2016, damals als Innenminister, bei der Vorstellung eines neuen Zivilschutzkonzeptes den Vorschlag einbrachte, die Menschen sollten für den Notfall vorsorgen, zumindest einen Wasservorrat und eine Dauerwurst im Keller haben, brach höhnisches Gelächter und der Vorwurf der Panikmache über ihn herein. Doch das Schicksal hat einen feinen Sinn für Revanche. Kaum liefen die ersten Meldungen über das „neuartige Corona-virus“in den Nachrichten, strömten die Deutschen aus, um ihre Regale mit Klopapier-rollen und Dosensuppe zu befüllen. Hamsterkäufe, wie sie nur noch die Kriegsgeneration aus eigenem Erleben kannte. Es war eine Lehrstunde. De Maizière fühlt sich zu Recht bestätigt und bleibt dennoch vorsichtig: „Wir haben ein krasses Missverhältnis: Privat versichern sich die Menschen gegen alles Mögliche und geben dafür viel Geld aus. Wenn der Staat das macht, wird das als Panikmache empfunden.“Ein Denken, das Deutschland schnell überwinden muss. Interview Katja Gloger und Georg Mascolo zeichnen in ihrem Buch die Corona-krise detailgetreu nach.
Herausgekommen ist ein echter politischer Thriller. Welche Erkenntnisse sie daraus mitnehmen Frau Gloger, Herr Mascolo, wenn Sie auf dieses Jahr der Pandemie blicken: Ist die Geschichte von Corona eine Geschichte des politischen Versagens, gepaart mit Naivität? Georg Mascolo: Leider wurde das Risiko einer Pandemie seit langer Zeit verdrängt. All die Analysen, die beschrieben, was passieren kann, wenn uns eine Pandemie heimsucht, waren sehr präzise. Doch im Vergleich zu anderen Bedrohungen, auf die wir uns versuchen vorzubereiten – da ist etwa die Gefahr von Terrorismus oder militärischer Konflikte –, sind wir nicht einmal in der Lage gewesen, für das zu sorgen, was in jedem Pandemieplan steht: Lagere eine Erstausstattung von Schutzmasken ein. Das ist, als ob man vergessen hätte, der Feuerwehr einen Schlauch zu kaufen. Leider haben sich die falschen Entscheidungen fortgesetzt. Die falscheste Entscheidung, die in Deutschland getroffen wurde, war wahrscheinlich, dass wir den Moment des Aufatmens nach dem Frühjahr so verstanden haben, als hätten wir das Schlimmste schon hinter uns. Besser wäre es gewesen, diese Atempause zu nutzen, um uns auf die zweite Welle vorzubereiten. Wir wussten, sie würde kommen.
Katja Gloger: Pandemie-experten sprechen von dem Zyklus aus Panik und Verdrängen. Auch die Ebola-krise 2014 und 2015 in Westafrika hätte sich zu einer Pandemie ausweiten können. Damals war die Weltgemeinschaft alarmiert und schaffte es in einer beispiellosen internationalen Zusammenarbeit, diese Epidemie einzudämmen. Barack Obama schickte das Militär, Angela Merkel ernannte einen Ebola-sonderbeauftragten. Und dann wurde das Thema „Pandemie“doch schnell wieder verdrängt. Und das, obwohl gerade Angela Merkel das Thema „Global Health“, globale Gesundheit, eigens auf die Agenda beim G7- und beim G20-gipfel gesetzt hatte. Damals glaubten viele Regierungschefs, es gebe wichtigere Themen. Aber Merkel setzte durch, dass sich zum ersten Mal die Gesundheitsminister aller G20staaten zu einer Pandemie-übung in Berlin trafen. Man hatte das Thema also durchaus auf dem Zettel – aber dann verschwand es doch wieder. Wohl auch, weil so viele andere Probleme drängender erschienen. es schon seit hunderten Jahren gibt. Wir haben nur einen echten Weg heraus aus der Pandemie – das sind die Impfstoffe. Die Wissenschaft hat in Rekordzeit Impfstoffe entwickelt. Der Staat hat leider seinen Teil nicht ausreichend eingelöst, vor allem, weil er nicht für genügend Produktionskapazitäten gesorgt hat. Nur das Impfen kann uns aus dieser Katastrophe herausführen. Zumindest dann, wenn wir daran denken, dass auch der Rest der Welt genug Impfstoff hat. Denn der vielleicht schwerste Fehler, den wir noch machen können, wäre, die eigene Bevölkerung schnell durchzuimpfen und dann zusehen zu müssen, wie mutierte Viren von anderen Teilen der Welt zu uns zurückkommen. Und dann beginnt alles von vorne. Impfstoffe für die Welt sind nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine medizinische Notwendigkeit.
Gloger: Allerdings sind wir in einer prekäreren Situation als noch vor einem Jahr. Die Angst vor diesem unbekannten Virus, mit dem noch nicht einmal Mediziner umgehen konnten, hat für eine große Disziplin und auch Solidarität gesorgt. Das Vertrauen in den Staat war groß. Doch dieser Vertrauensvorschuss ist über den Winter zu einem großen Stück verloren gegangen. Die hohe Kunst wird es für uns alle sein – für die Gesellschaft, nicht nur für die Kanzlerin –, sich pragmatisch und mit einer gewissen Flexibilität zusammenzureißen, um die nächsten Monate zu überstehen, damit das Virus nicht außer Kontrolle gerät. Die Zahlen sind besorgniserregend. Wir müssen den gesunden Menschenverstand einsetzen.
Interview: Margit Hufnagel derale System aus sich heraus ein Nachteil ist. Wir erleben ja auf der anderen Seite, dass hohe Eigenverantwortlichkeit und gute Organisation in Kommunen ein großer Vorteil sein kann. Die Frage ist, wie man einen gesamtstaatlichen Prozess organisiert, indem man nicht vergisst, dass Geschwindigkeit das Wichtigste ist. Das ist auch in einem zentralistischen System wie etwa Frankreich nicht garantiert. Die entscheidende Frage ist also nicht: Zentralstaat oder Föderalismus? Die entscheidende Frage ist: Ist man bereit zu schnellen und konsequenten Entscheidungen? Dann kann Föderalismus ein Vorteil sein, weil er näher an den Menschen ist.
Gloger: Spätestens ab dem Sommer war es auch eine Frage der Prioritätensetzung. Weil es am Ende ja nur einen Weg aus dieser Pandemie gibt, nämlich Impfstoffe, hätte man sich wohl früher und schneller um die entscheidenden Schritte kümmern müssen. Wir hätten Produktionskapazitäten aufbauen müssen. Inzwischen haben wir einen Beauftragten für Impfstoffe. Aber warum erst jetzt? Stattdessen hat man sich im Kleinklein verheddert, in unterschiedlichen Interessen. Natürlich stehen hinter jeder Diskussion Menschen und ihre Schicksale: Kinder, die nicht in die Schule gehen können. Gaststättenbesitzer, die nicht aufmachen können. Ich will das nicht abtun. Aber weil man es irgendwie doch allen recht machen wollte, hat man sich oft so verkämpft, so viel Kraft eingesetzt, dass man die großen Schritte nicht gegangen ist: ausreichend Impfstoffe zu organisieren und früh, also präventiv, Testkonzepte zu erarbeiten. Das muss eine Lehre sein. Wunder“. Die Amerikaner, die Briten – alle haben mit einer gewissen Bewunderung auf uns geschaut. Auch, weil es einen engen Schulterschluss zwischen Politik und Bevölkerung gab. Dann kam eine Zeit mangelnder Entschlossenheit; da spielen natürlich die gesetzlichen Grundlagen, mit denen wir es zu tun haben, eine Rolle. Die wichtigste Währung in der Pandemie ist die Zeit – man muss immer schnell handeln, dem Virus möglichst einen Schritt voraus sein. Aber wenn alle Entscheidungen abgestimmt werden zwischen 16 Bundesländern und dem Bund, dann ist der berüchtigte kleinste gemeinsame Nenner bisweilen das beste zu erzielende Ergebnis. In einem Sommer der Sorglosigkeit waren wir nicht mehr aufmerksam genug, und wir waren in der Vorbereitung auf Herbst und Winter nicht mehr gut genug. Das betrifft etwa die Frage nach der Digitalisierung und einer funktionierenden Corona-warn-app, die Frage nach einem funktionierenden Schulunterricht, die nach schnellen Tests und genügend Impfstoffen. In dieser zweiten Phase der Pandemie ging viel mehr schief, als so ein Virus verzeiht.
Gloger: Pandemien sind unbestechliche Lehrmeister, weil sie den Gesellschaften erbarmungslos den Spiegel vorhalten. Es werden alle Stärken, aber auch alle Schwächen und strukturelle Probleme sichtbar. Man sieht plötzlich auch, welche Folgen Entscheidungen haben, die nicht getroffen wurden. Mit diesen strukturellen Problemen – neben dem bekannten Trauerspiel der Digitalisierung ist das aber auch Über-bürokratisierung, Über-absicherung, mangelnde Flexibilität – werden wir uns beschäftigen müssen. Hinzu kommt, dass wir zu spät begonnen haben, von den Erfolgen anderer zu lernen. Die demokratischen ostasiatischen Staaten etwa waren aufgrund ihrer Erfahrung mit SARS im Jahr 2003 anders vorbereitet, sie haben schnell und konsequent ihre Mechanismen aktiviert. Für sie war es selbstverständlich, den Bürgern sofort zu empfehlen, Masken zu tragen – während wir in Europa, aber leider auch bei der WHO, erst wochenlang debattiert haben. Laufen wir gerade sehenden Auges in die nächste Katastrophe?
Mascolo: Ganz so pessimistisch will ich nicht sein. Es ist aber niederschmetternd genug, dass wir ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie schon wieder in der gleichen Unsicherheit gefangen sind, die uns schon Ostern 2020 begleitet hat. Das Testen wird das Leben hoffentlich ein wenig erträglicher machen. Die sogenannten nicht-pharmazeutischen Maßnahmen sind ja ohnehin immer eine kleine Kapitulation: Uns fällt nichts anderes ein als die Aufforderung, zu Hause zu bleiben, sich zurückzuziehen. Das ist ein Mittel der Seuchenbekämpfung, das Wie kann das sein, dass ausgerechnet Deutschland so ins Straucheln geraten ist? Mascolo: Im vergangenen Jahr schrieben spanische Zeitungen vom „deutschen Steht uns in einer Krise, die uns mit solcher Wucht trifft, das föderale System im Weg? Mascolo: Ich bin nicht sicher, ob das fö