Verrät die EU ihre Werte?
Spitzenvertreter reisen zu Gesprächen
mit Erdogan
Brüssel/ankara Die EU lotet ungeachtet scharfer Kritik von Menschenrechtlern einen möglichen Ausbau der Beziehungen zur Türkei aus. Bei einem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ankara diskutierten Eukommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Dienstag über eine Stärkung der wirtschaftlichen Kooperation. Sie könnte nach Angaben von der Leyens eine Modernisierung der Zollunion und eine intensivere Zusammenarbeit bei Zukunftstechnologien im Bereich Umwelt und Digitales umfassen.
Es gehe um eine stärkere Kooperation, die für beide Seiten profitabel sei, sagte die deutsche Cdu-politikerin. Dazu zählten auch die Zusammenarbeit in der Flüchtlings- und Migrationspolitik sowie der Ausbau der Kooperation im Rahmen des Eu-forschungsprogrammes Horizont und des Austauschprogramms Erasmus. Es gebe weiter Uneinigkeiten, aber auch neue Chancen, sagte Michel. Zugleich machte von der Leyen deutlich, dass die EU auch in Zukunft nicht zögern werde, negative Entwicklungen anzuprangern. Sie und Michel hätten deutlich gemacht, dass die Achtung der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit für die EU von entscheidender Bedeutung sei und die Türkei die internationalen Menschenrechtsregeln einhalten müsse, sagte sie. Der Rückzug der Türkei aus der Istanbul-konvention zum Schutz von
Kritik an „Brüsseler Selbstverzwergung“
Frauen sei zutiefst besorgniserregend und das „falsche Signal“.
Hintergrund der Gespräche mit Erdogan waren Beschlüsse des Eugipfels vor eineinhalb Wochen. Bei ihm hatten sich die Staats- und Regierungschefs darauf verständigt, die Beziehungen zur Türkei schrittweise wieder auszubauen. Mit dem Beschluss will die EU die Eskalation weiterer Konflikte abwenden.
In der Migrationspolitik zählt die EU mit dem 2016 geschlossenen Flüchtlingspakt auf die Türkei als Partner, um Geflüchtete an der Weiterreise in Richtung Europa zu hindern. 2020 hatte sich der Streit zwischen Griechenland und der Türkei wegen umstrittener Erdgasforschung im Mittelmeer gefährlich zugespitzt. Die EU hatte der Türkei scharfe Sanktionen angedroht. Ankara beendete später die umstrittenen Erdgaserkundungen und signalisierte Gesprächsbereitschaft.
Die Türkei hatte zuletzt mit einer Reihe innenpolitischer Entwicklungen international für Empörung gesorgt: Der zweitgrößten Oppositionspartei, der pro-kurdischen HDP, droht ein Verbot, zahlreichen Oppositionspolitikern soll der Abgeordnetenstatus aberkannt werden. Auch vor diesem Hintergrund wurde der Besuch von vielen Seiten kritisch kommentiert. Linken-bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen teilte mit: „Wer in diesen Tagen zu politischen Gesprächen in die Türkei reist, sollte die unzähligen politischen Gefangenen, darunter dutzende Deutsche, in den Knästen der Türkei besuchen statt Autokrat Erdogan im Palast die Aufwartung zu machen!“Auch Cem Özdemir kritisierte den Besuch in Ankara als „Brüsseler Selbstverzwergung“und „Hohn für alle Demokrat*innen der Türkei.“Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommentierte: „Je dreister der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wird, desto ruhiger wird die Europäische Union.“Diese sollte ihren Ansatz dringend überprüfen und sichtbare Fortschritte in Sachen Menschenrechte an die Aufnahme von Gesprächen über eine Zollunion knüpfen. (dpa)