„Menschen brauchen Hilfe, nicht die Giftampulle“
Interview Die Vorsitzende des Bayerischen Ethikrats, Susanne Breit-keßler, hält „Leben im Sterben“für ein hochaktuelles
Motto der diesjährigen Woche für das Leben. Assistierter Suizid sei kein Ausdruck für freie Selbstbestimmung, sagt sie
Was geht Ihnen, Frau Breit-keßler, durch den Kopf, wenn Sie das Motto „Leben im Sterben“der ökumenischen „Woche für das Leben“lesen?
Susanne Breitkeßler: Ein gut gewähltes, hochaktuelles Motto – gerade wegen seiner vielfältigen Bezüge. Konfrontiert mit dem Sterben erkenne ich die Einmaligkeit des Lebens. Und mitten im Leben muss ich mich mit dem Sterben auseinandersetzen, kann es als Ausgangspunkt für neues Leben deuten.
Hat Ihre eigene schwere Krebserkrankung in den 80ern Ihre Perspektive auf das Lebensende verändert? Breitkeßler: Ja. Meine ganze Perspektive auf das Leben hat sich gewandelt. Ich bin dankbar für jeden Tag, der mir und meinem Mann geschenkt ist.
Das Motto der „Woche für das Leben“hat eine neue Zuspitzung erfahren durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen auch assistierten Suizid straffrei stellt. Soll der Arzt zum Vollstrecker werden? Breitkeßler: Die Frage nach der Rolle des Arztes greift zu kurz. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 geht es um ein sehr weitreichendes Verständnis der Autonomie. Unabhängig von Lebenssituationen, unabhängig davon, ob jemand schwer krank oder physisch kerngesund ist, unabhängig von Motiven soll jeder Mensch aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts einen Anspruch darauf haben, seinem Leben ein Ende zu setzen – und dafür auch die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen können. Es geht bei diesem Urteil eben nicht allein um Schwerstkranke mit unerträglichem Leiden. Es geht um jede und jeden, der – warum auch immer – sich umbringen will. Es geht um den 23-Jährigen mit Liebeskummer. Um die 57-Jährige, die von ihrem Mann verlassen wurde. Um den 39-Jährigen, der hoch verschuldet ist. Sie alle, so muss man das Urteil des höchsten deutschen Gerichts deuten, haben einen Anspruch darauf, dass es geschäftsmäßig organisierte Anbieter der Beihilfe für ihren Suizid gibt.
Diese weitreichende Dimension des Urteils dürfte den wenigsten bekannt sein.
Breitkeßler: Für mich ist dies ein Irrweg. Denn der Wunsch nach Selbsttötung ist in den allermeisten Fällen gerade kein Ausdruck von Selbstbestimmung, sondern Ausdruck des Verlusts an Selbstbestimmung: Menschen sehen keinen Ausweg mehr, sie sind gefangen im Gefühl, dass es nur noch die Option des Suizids gibt. Ich bin davon überzeugt: Menschen, denen es so geht, brauchen Hilfe zum Leben, brauchen Therapie und Unterstützung. Und nicht die Giftampulle.
Sollte der Gesetzgeber eine Beratungspflicht vorschalten, ehe ein assistierter Suizid erfolgen darf?
Breitkeßler: Ich lehne die geschäftsmäßig organisierte Beihilfe zum Suizid ab. Eine Beratungspflicht, die damit verknüpft würde, wäre aus meiner Sicht ein Feigenblatt. Insgesamt müssen die Beratungsangebote für Menschen, die von Suizidgedanken besetzt sind, ausgebaut werden. Aber eben nicht als Türöffner für die Vermittlung von Selbsttötungsmöglichkeiten, sondern als Hilfe, Lebenschancen wahrzunehmen.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte im Dezember: Er sei zuversichtlich, dass es noch in dieser Wahlperiode eine fraktionsübergreifende gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe geben werde. Halten Sie das noch für realistisch?
Breitkeßler: Der Bundestag tut gut daran, ohne Zeitdruck und mit größter Sorgfalt darüber zu beraten.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes kann im Blick auf gesetzliche Regelungen gar nicht sorgfältig genug bedacht werden.
Kann es auch mildere Formen der Sterbehilfe geben, zum Beispiel einen frei gewählten Behandlungsverzicht? Breitkeßler: Die Frage der Suizidbeihilfe für alle, die sich umbringen wollen, ist scharf zu unterscheiden von der Frage der Sterbebegleitung. Mit ihr verbindet sich der Blick auf Situationen von Schwerstkranken, von Menschen am Lebensende. Für sie braucht und gibt es Angebote der passiven Sterbehilfe. Dabei geht es um Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen und um palliative Sterbebegleitung. Sie sorgt dafür, dass der letzte Weg ohne unerträgliche Schmerzen und in ganzheitlicher Sorge für den Sterbenden gestaltet werden kann. Frei gewählten Behandlungsverzicht gibt es längst. Niemand wird gegen seinen aus
drücklichen oder klar erkennbar freien Willen behandelt. Aber das ist etwas ganz anderes als die Überreichung der Giftampulle oder gar die Tötung auf Verlangen, die manche als „Sterbehilfe“legalisieren wollen.
Muss man denn religiös sein, um auch mit einer schweren Erkrankung das Leben positiv zu sehen?
Breitkeßler: Nein. Aber der Glaube kann helfen, die obsessive Macht einer schweren Krankheit zu überwinden und das Herz für Zuversicht auch über den Tod hinaus zu öffnen.
Hat aus Ihrer Sicht die Covid19-pandemie die Deutschen stärker sensibilisiert für die Endlichkeit des Lebens?
Breitkeßler: Ich hoffe: Ja.
Inwiefern kann und soll der Bayerische Ethikrat, dessen Vorsitzende Sie sind, hier auf das öffentliche Bewusstsein einwirken?
Breitkeßler: Der Bayerische Ethikrat ist ein Beratungsgremium der Bayerischen Staatsregierung. Darüber, wie er berät, wird er transparent und deutlich informieren – und sich damit auch im öffentlichen Diskurs einbringen.
Seit fast einem Jahr wird immer wieder kritisiert, die Kirchen würden sich nicht hörbar genug zur Pandemie und ihren Folgen äußern. Wie erklären Sie sich diese Kritik? Und was genau müsste aktuell in der Pandemie der Beitrag der Kirchen sein? Breitkeßler: Die Kritik ist überzogen. Die Spitzen der Kirchen haben sich oft und viel geäußert. Ob das überall ankam, steht auf einem anderen Blatt. Als emeritierte Regionalbischöfin halte ich mich mit Ratschlägen zurück.
Immer wieder gab es Demonstrationen gegen die Corona-maßnahmen. Haben Sie noch irgendein Verständnis dafür, wenn Tausende – wie zuletzt etwa in Stuttgart – ohne Maske und Abstand auf die Straße gingen und die Polizei sie nicht daran hinderte? Breitkeßler: Nein.
Bereiten Ihnen die Demonstrationen der selbst ernannten „Querdenker“Sorge?
Breitkeßler: Ja, sehr.
Besorgt Sie auch das Lavieren der verantwortlichen Bundes- und Landespolitiker? Es heißt ja immer: Man müsse schnell auf die jeweilige Entwicklung, die die Pandemie nimmt, reagieren – ein Zögern und Zaudern könne Menschenleben kosten. Doch statt schnell zu handeln, zog sich zum Beispiel CDU-CHEF Armin Laschet über Ostern zum Nachdenken zurück … Breitkeßler: Ich weiß, dass politisch Verantwortliche sich mit größtem Ernst abmühen, um verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen. Wer sie pauschal kritisiert oder gar verunglimpft, beweist Ahnungslosigkeit. Sachliche Kritik, gute Argumente, was anders und besser werden muss, das brauchen wir. Übrigens gehört dazu, dass wir uns jetzt schon fragen, was wir durch die Pandemie begreifen müssen – politisch und strukturell, aber auch individuell, gesamtgesellschaftlich und global. Für mich ist die zentrale Frage: Wie können wir uns alle zusammen, in unserem Land, in Europa und global krisenfest aufstellen – und begreifen, dass nicht immer alles selbstverständlich mach- und verfügbar ist?
Interview: Alois Knoller
und Daniel Wirsching
Susanne Breitkeßler, 67, ist Vor sitzende des im Oktober 2020 ein gesetzten Bayerischen Ethikrates. Zuvor war die ausgebildete Jour nalistin evangelische Regionalbischö fin von München und Oberbayern.