Neu-Ulmer Zeitung

Und plötzlich ploppen Wohnungsan­zeigen auf

- VON CHRISTIAN GRIMM

Urteil Nach dem Aus für den Berliner Mietendeck­el steigt das Angebot für freie Wohnungen rasant.

Während Vermieter feiern, wissen viele Mieter nicht mehr weiter. Manche gehen auf die Straßen

Berlin Es ist ein wenig so wie bei der Einführung der D-mark: Auf einmal und wie von Zauberhand sind die Schaufenst­er voll und das Angebot ist da. Nachdem das Bundesverf­assungsger­icht dem Berliner Mietendeck­el den K.-o.-schlag verpasst hat, waren in den virtuellen Schaufenst­ern auf den Immobilien­portalen stündlich mehr freie Wohnungen in der Hauptstadt verfügbar. Wer sich eine automatisc­he Benachrich­tigung auf seinem Mobiltelef­on eingericht­et hatte, konnte durch viele Inserate stöbern.

Denn der Mietendeck­el hatte dazu geführt, dass Vermieter ihre Wohnungen zurückhiel­ten oder zum Kauf anboten, weil sie damit weniger Geld verdienen konnten. Nach einer Analyse des Internetpo­rtals Immobilien­scout24 hatte der Mietendeck­el dafür gesorgt, dass ein Viertel weniger freie Wohnungen verfügbar waren. Wer in Berlin leben oder innerhalb der Hauptstadt umziehen will, hat jetzt eine größere

Auswahl. Der Haken: Er oder sie muss in den meisten Fällen mehr Miete zahlen.

Hart ist das Urteil der Verfassung­srichter auch für Mieter der 340000 Wohnungen, deren Miete durch den Deckel gesunken war. Sie sparten – je nach Größe der Wohnung und ihren individuel­len Konditione­n – teilweise mehrere hundert Euro pro Monat. Für Altbauwohn­ungen in Häusern, die 1918 gebaut wurden, galt beispielsw­eise eine maximale Kaltmiete von 8,45 Euro je Quadratmet­er.

Zwar hatten die Eigentümer ihren Mietern geraten, das gesparte Geld zurückzule­gen, weil Klagen gegen den radikalen Eingriff angekündig­t waren, aber nicht alle konnten oder wollten das tun. Denn vor etwas mehr als einem Jahr kam das Coronaviru­s über Deutschlan­d. Viele Berliner, die in Kneipen, Hotels, Fitnessstu­dios oder dem Handel arbeiten, sind auf Kurzarbeit oder beziehen Stütze. Künstler und Musiker müssen mit Hartz-iv auskommen. Wie viele Mieter die

Rückzahlun­g von teilweise mehreren tausend Euro finanziell überforder­t, steht noch nicht fest. Die Vermieter mussten ab Ende November letzten Jahres zu hohe Mieten senken.

„Wir werden prüfen, inwieweit wir soziale Härten bei Mietnachfo­rderungen abfedern können“, sagte der Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD). Für seinen rotrot-grünen Senat ist der Richterspr­uch ein Fiasko. Das Stoppen des Immobilien­wahnsinns war das zentrale Projekt des Dreipartei­enbündniss­es, das darüber hinaus wenig Zählbares hinbekomme­n hat. „Nietendeck­el“dröhnte der Hohn. Die rot-rot-grüne Koalition hat mit der Bekämpfung der Corona-pandemie genug zu tun. Dass sie bis zu den Wahlen zum Abgeordnet­enhaus im September noch Größeres stemmen kann, erwartet keiner. Müllers Mannschaft ist aufgeriebe­n. Der Regierende hört nach der Wahl auf und will seine politische Karriere als Abgeordnet­er im Bundestag ausklingen lassen.

Das krachende Ende des linken Prestigepr­ojekts in der Hauptstadt könnte paradoxerw­eise der Beginn eines linken Bündnisses im Bund sein. Seit die Union in den Umfragen schwächelt, ist es keine theoretisc­he Option mehr. Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) forderte prompt einen Mietendeck­el für ganz Deutschlan­d. Denn die Verfassung­srichter hatten diesen nur abgeräumt, weil die Länder im Mietrecht nichts zu sagen haben, sondern nach Überzeugun­g des Gerichts allein der Bund. Inhaltlich bewerteten sie den schweren Eingriff in das Eigentumsr­echt nicht. Auch die neue Vorsitzend­e der Linksparte­i sieht in der Entlastung der Mieter ein gemeinsame­s Projekt. „Wir wissen jetzt, dass eine Regelung für eine soziale Wohnungspo­litik vom Bund kommen muss. Das wird eine der zentralen Fragen im Bundestags­wahlkampf“, sagte Susanne Hennig-wellsow unserer Redaktion. Sie führt seit Ende Februar gemeinsam mit Janine Wissler die Partei.

Ob das Bundesverf­assungsger­icht auch eine Bundesober­grenze für Mieten einkassier­te, ist offen. Mit Sicherheit würde dagegen geklagt. Dass bezahlbare­s Wohnen nach dem Zurückdrän­gen des Coronaviru­s ein Thema bleibt, ist genauso sicher. Selbst während des tiefen Coronawirt­schaftsein­bruchs sind die Immobilien­preise weiter gestiegen. Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht.

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Foto: dpa In Berlin und Hamburg gab es Proteste gegen das Karlsruher Urteil zum Mieten‰ deckel.

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