Eine Weltreise für einen Ausbildungsplatz
Migration Sie haben Ausbilder und Arbeitgeber – trotzdem müssen gut integrierte Geflüchtete in Bayern mit der Abschiebung rechnen. Josefine Steiger will sich damit nicht abfinden. Seit Jahren kämpft sie dafür, dass junge Leute eine Chance haben. Auch wenn der Weg lang ist
Augsburg Der 20-Jährige kann es nicht fassen. Er glaubt es noch nicht. Zu groß ist seine Angst. Seit Jahren. Schmal und fast in sich versunken sitzt er auf einem Stuhl in einem Raum im Untergeschoss eines Augsburger Kinderheims. Hier hat er gewohnt, als er 2015 nach Deutschland kam. Hier wurde er unterstützt. Mit 14 Jahren hatte er sich auf den Weg gemacht. Weg aus Afghanistan. Weg vom Krieg. Gut ein halbes Jahr war er unterwegs, weite Strecken zu Fuß. Ein junger Mensch, der in ein fremdes Land kommt. Ohne Eltern. Ohne Geschwister. In ein Land, in dem er Frieden sucht, eine Ausbildung, eine Arbeit, eine Chance. Er gibt alles. Lernt Deutsch. Legt ein Zeugnis nur mit Einsern und Zweiern vor, hat beste Beurteilungen, findet einen Ausbildungsplatz – und soll dennoch abgeschoben werden.
Josefine Steiger sitzt neben dem Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Zu unsicher ist seine Situation. Die 66-Jährige lächelt ihn an. Sie will ihm sichtlich Mut machen. Sie weiß, wie wichtig es ist, nicht aufzugeben. Zu kämpfen. Doch sie weiß auch, wie hart dieser Kampf ist. Zu lange führt sie ihn schon. Mehr als 40 Jahre war Josefine Steiger bei der Industrieund Handelskammer Schwaben angestellt. Unzähligen jungen Leuten hat sie dort zu einer Ausbildung verholfen. Gerade Menschen, die es schwer haben. Gerade Migranten. Längst ist die Frau eine Institution.
Josefine Steiger hat ein großes Herz. Keine Frage. Doch ihr wahrhaft grenzenloses Engagement für Menschen, die am Beginn ihres Berufslebens stehen, allein mit ihrer Menschenliebe zu begründen, wäre oberflächlich. Was sie umtreibt, was sie auch in ihrem Ruhestand nicht ruhen lässt, ist der Glaube an Gerechtigkeit. An Chancengerechtigkeit. Und gerade, was mit jungen geflüchteten Menschen in Bayern passiert, hat ihrer Einschätzung nach mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Es sei pure Willkür.
Leidtragende sind nicht nur die Menschen, die um eine faire Chance bitten, es sei auch Bayerns Wirtschaft.
Denn Josefine Steiger kennt nicht nur die Ängste der Migranten, sie kennt ebenso gut die Sorgen vieler Betriebe, die händeringend Mitarbeiter suchen und keine finden. Und die froh sind, mit geflüchteten Menschen endlich Verstärkung zu haben. Doch bleiben können die Migranten deswegen oft noch lange nicht. Davon kann Marcus Jeske berichten. Der 46-Jährige ist einer von vielen Arbeitgebern in der Region, die sich dafür einsetzen, dass ihr ausländischer Mitarbeiter weiter hier lernen und arbeiten darf.
Jeske leitet das Haus Augustahof in Augsburg, ein Seniorenheim. Deutsche gehen nach seiner Erfahrung immer seltener in die Pflege. Längst sei man auf Kräfte aus dem Ausland angewiesen. Jemanden zu finden, der sowohl in das Team passe als auch von den Senioren gut angenommen werde, sei oft schwierig. Als auf Vermittlung von Josefine Steiger im Dezember ein junger Afrikaner sein Praktikum begann, war man sich schnell einig: „Der hat einfach von Anfang an zu uns gepasst“, sagt Jeske. Liebevoll im Umgang mit den Senioren. Sehr zuverlässig. Wissbegierig. Und er spricht gut Deutsch. Ein Deutsch mit schwäbischem Akzent, wie man am Telefon schnell merkt. Der 23-Jährige, der bis zu ihrem Tod seine blinde Mutter in seiner Heimat gepflegt hat und für den die Altenpflege sein Traumjob ist, sitzt wieder in Gambia. Und wartet auf ein Visum. Denn er war ausreisepflichtig. Erst wenn er wieder einreisen darf, kann er seine Ausbildung starten. Dabei stört ihn dieses Herumsitzen, erzählt er: „Ich möchte doch nur arbeiten.“Seniorenheimleiter Jeske kann es nicht verstehen: „So viele Ausländer leben bei uns auf Staatskosten und integrieren sich nicht. Die jungen Leute aber, die hier arbeiten, Sozialbeiträge zahlen und wirklich etwas leisten, die schiebt man ab.“
Auch Robert Knauer kann davon erzählen, wie hart die bayerische Migrationspolitik die regionale Wirtschaft trifft. Er ist Chef des Fleischmarkts Fuss in Memmingen. Jeden Tag noch vor Anbruch des Morgens werden bei ihm Schweineund Rinderhälften angeliefert. Knauers Männer zerteilen die Tiere in gekühlten Räumen in Koteletts, Schnitzel, Filets, Schulterstücke. Es ist ein Job, den nicht jeder machen möchte, sagt Knauer. Ein Job, der, ginge es nach ihm, ein Ausbildungsberuf wäre. Ist er aber nicht.
Der Allgäuer hätte genug Arbeit, um mehr Menschen zu beschäftigen. Doch er findet schwer Mitarbeiter. Umso froher war er, als er vor etwas über zwei Jahren drei Geflüchtete einstellen konnte: zwei Iraner und einen Afghanen. Diese Entscheidung hat Knauer quasi zum Experten für Asyl- und Aufenthaltsrechtsfragen gemacht. Vor allem der junge Mann aus Afghanistan steht immer wieder kurz vor der Abschiebung. Zwar verdient er Geld, zahlt Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, aber bleiben soll er nicht. Die Bundesregierung hält Afghanistan inzwischen für so sicher, dass sie Geduldete abschiebt – und der junge Mann ist nur geduldet. Dass er eine Festanstellung hat und Knauer ihn braucht, spielt keine Rolle. Bisher erlaubte die Ausländerbehörde ihm immer wieder zu arbeiten. Stellte Duldungen aus, die sie dann widerrief. Zuletzt war es im Februar wieder so: Von heute auf morgen durfte der Mann nicht mehr zur Arbeit, musste in der Asylunterkunft tatenlos darauf warten, abgeschoben zu werden. Sein Platz im Betrieb blieb unbesetzt. „Eine oder zwei Wochen kann man das mal überbrücken. Aber wenn das immer wieder passiert, fehlt mir das Verständnis“, sagt Knauer.
Eine, die solche Entscheidungen anficht, ist Bettina Feix. Sie ist Anwältin für Migrationsrecht, hat eine Kanzlei in Bad Wörishofen und vertritt Menschen aus ganz Schwaben in Asylrechtsfragen oder was das Aufenthaltsrecht betrifft. Bettina Feix sagt: „Die Ausländerbehörden hätten Ermessensspielraum, den sie zugunsten der Geduldeten nutzen könnten. Stattdessen werden sehr oft politisch motivierte ablehnende Entscheidungen getroffen, zulasten der Geduldeten, aber auch zulasten der Wirtschaft und des Steuerzahlers.“
In Bayern wolle die Politik, dass Geduldete – auch wenn sie arbeiten – abgeschoben werden. „Und dafür kommt der Steuerzahler auf“, sagt Feix. Denn bevor die Ausländerbehörden Menschen wie dem Afghanen in Knauers Fleischbetrieb die Arbeitserlaubnis entziehen, verdienen sie Geld, zahlen Miete. Danach bekommen sie Sozialhilfe. „Auch eine Abschiebung ist sehr teuer“, sagt Feix. Dabei gibt es Gesetze, die regeln, wer eine Beschäftigungsduldung bekommt und wer nicht. „Aber ich persönlich habe es noch nie erlebt, dass jemand eine Beschäftigungsduldung bekommen hat.“Die Voraussetzungen seien zu schwer zu erfüllen. Ein Knackpunkt sei die vorangehende Duldung von zwölf Monaten. „Die Ausländerbehörden in Schwaben legen es so aus, dass die Duldung davor zwölf Monate am Stück gegolten haben muss. Aber ob sie das tut oder nicht, hat die Behörde selbst in der Hand. Und sie erteilt Duldungen meist für kürzere Zeiträume“, sagt Feix.
Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit gab es in Bayern im Juli 2020 – neuere Zahlen liegen noch nicht vor – 3566 Menschen, denen es ähnlich geht wie dem jungen Afghanen in Knauers Fleischbetrieb. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, aber sie sind geduldet und arbeiten. Wie lange noch, ob sie irgendwann dauerhaft bleiben dürfen oder nicht, das alles liegt nicht in ihrer Hand.
Aus dem bayerischen Innenministerium heißt es: „Bayern hat im Jahr 2020 in der Bundesrepublik Deutschland mit Abstand die meisten Ausbildungsduldungen erteilt, nämlich 1133. Mehr als jedes andere Bundesland. Bei der Zahl der erteilten Beschäftigungsduldungen bietet sich ein ähnliches Bild: Bayern schneidet in einer bundesweiten Auswertung für 2020 auch hier besonders gut ab.“275 Beschäftigungsduldungen habe der Freistaat erteilt. Nur in Nordrhein-westfalen und Baden-württemberg sei die Zahl höher gewesen. Allerdings, auch das teilt das Ministerium mit, solle die Beschäftigungsduldung nur im Ausnahmefall gewährt werden. Nämlich dann, wenn eine Person besonders gut integriert sei. Aber wie lässt sich das beweisen? „Wer nach erfolglos durchgeführtem Asylverfahren keine Verfolgung im Heimatstaat zu fürchten hat, muss dorthin im Regelfall wieder zurückkehren“, sagt eine Sprecherin.
Für Knauers afghanischen Mitarbeiter sieht es momentan ganz gut aus. Er hat eine neue Duldung bekommen, darf wieder arbeiten. Aber für wie lange? Der junge Mann und sein Chef wissen es nicht.
Diese Machtlosigkeit, die Angst, die einen ergreift, wenn man nicht weiß, ob man bleiben darf oder gehen muss, kann Ajaz Hamdard beschreiben. Er ist heute 21 Jahre alt, kam 2015 nach Deutschland und beantragte Asyl. Er besuchte die Schule, machte einen Abschluss, arbeitete bei Amazon, hätte dann eine Ausbildungsstelle als Altenpfleger im Landkreis Aichach-friedberg bekommen, doch er durfte sie nicht antreten. Die Ausländerbehörde lehnte es ab. Stattdessen sollte auch Hamdard nach Afghanistan abgeschoben werden. „Ich kann mich noch gut an die Nächte erinnern“, sagt er. „Wir saßen alle im Heim und wussten: Heute holen sie jemanden ab, der abgeschoben werden soll. Nur wen es treffen würde, das wussten wir nicht“, erzählt er.
Josefine Steiger war es, die ihn rettete. Sie nahm ihn mit auf einen
Flug nach Neu Delhi – ihren ersten im Oktober 2019. Denn Steiger hat einen Weg gefunden. Wer zum ersten Mal von ihm erfährt, hält ihn für Irrsinn. Aber Steiger ist glücklich, dass es überhaupt klappt. Hamdard flog also mit Steiger und einigen anderen nach Neu Delhi. Sie alle hatten eine Ausbildungsstelle in Deutschland sicher, konnten sie aber nicht antreten, weil sie ausreisepflichtig waren. Sie mussten das Land verlassen, in der für sie zuständigen Botschaft – da es in Kabul keine deutsche Botschaft mehr gibt, sind die Botschaften in Indien und Pakistan zuständig –, einen Antrag auf ein Ausbildungsvisum stellen und durften dann zurückkehren.
Das deutsche Recht sieht es so vor, erklärt Anwältin Feix: Visa lassen sich nicht im Inland beantragen. „Und in Bayern wird sehr großer Wert darauf gelegt, dass Migranten, die hier eine Ausbildung machen möchten, über das Fachkräftezuwanderungsgesetz einreisen und nicht als Asylsuchende“, so Feix.
Grotesk sei das, „ein aberwitziger Parcours“, sagt Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Und das alles nur, weil man in Bayern partout keinen Spurwechsel wolle. Also einen Wechsel von gut integrierten und qualifizierten Asylbewerbern ohne Bleiberecht vom Asyl- ins Einwanderungsverfahren. Weil man Angst habe vor einer neuen Flüchtlingswelle. Angst, zu viel Anreize zu schaffen. „Dass man gut integrierte Asylbewerber hier nicht arbeiten lässt, sondern lieber die Staatskasse belastet, hat mit vernünftiger Politik nichts zu tun“, sagt Dünnwald. „Wirtschaftspolitisch gesehen ist das grober Unsinn. Und nur Bayern fährt so einen gnadenlosen Kurs.“Dünnwald weiß das Engagement vieler Unternehmer für ihre geflüchteten Mitarbeiter sehr zu schätzen. Doch das reiche nicht. „Bayerns Wirtschaft muss sich als Ganzes stärker für den Spurwechsel einsetzen“, fordert er.
Was ihn ärgert, ist die Willkür, der Asylbewerber in Bayern ausgesetzt seien. Dünnwald spricht von „Feudalismus“und meint damit, dass Asylbewerber oft nur mit Vitamin B, also mit dem Einspruch eines Bürgermeisters, eines Landrats, eines Kirchenvertreters in letzter Minute
Er pflegte seine blinde Mutter und jetzt Senioren im Heim
Oft geht es am Schluss nur noch mit Vitamin B
„begnadigt werden“, also doch noch bleiben dürften. „Allein schaffen es viele nicht, auch wenn sie noch so gut integriert sind.“Die Flüchtlingshelferkreise tun viel. Doch nicht jeder, der es verdient hätte, habe eine Josefine Steiger an seiner Seite, sagt Dünnwald.
Ajaz Hamdard hatte sie an seiner Seite. Dennoch sei er sich in Neu Delhi nicht sicher gewesen, dass ihr Plan aufgehe. Vieles war schwierig. Dass es letztendlich geklappt hat, sei Josefine Steiger zu verdanken. Heute macht Hamdard eine Ausbildung zum Fachlageristen bei Witty in Dinkelscherben im Landkreis Augsburg. Noch dieses Jahr will er seine Prüfung ablegen.
Im Juni will Josefine Steiger wieder ein Flugzeug nach Neu Delhi mit 13 Geflüchteten besteigen. Mit dabei auch der junge Mann, der an diesem Nachmittag im Augsburger Kinderheim sitzt und alle Hoffnung schon aufgegeben hatte. Um den Josefine Steiger Angst hatte. Er hat einen Ausbildungsplatz in der Lagerlogistik. Den braucht er auch, um den Flug bezahlen zu können. Die Flugkosten übernehmen die Asylbewerber, den Aufenthalt Josefine Steiger. Schließlich hätten viele schon Schulden, etwa bei Anwälten. Oft greifen Flüchtlingshelfervereine und andere Unterstützer Asylbewerbern finanziell unter die Arme.
Immer wieder wird Josefine Steiger von ihren Schützlingen gefragt, wie sie ihr danken können. Doch sie will nichts. „Denn sie bekommen alle von mir einen Auftrag“, sagt sie: „Sie müssen anderen helfen.“