Neu-Ulmer Zeitung

Die Versöhnung

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Geschichte Am 20. Juli 1944 versuchte Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg, Adolf Hitler zu töten. Der Diktator überlebte, Heinrich Berger nicht.

Jahrzehnte später begegnen sich Stauffenbe­rgs Enkelin und die Tochter des in der Wolfsschan­ze getöteten Stenografe­n

Erfurt Das Wort fällt ganz zum Schluss, beim Abschied. Die beiden Frauen stehen sich gegenüber, in der Diele einer Wohnung im 13. Stock eines Plattenbau­s in Erfurt, irgendwo am Juri-gagarin-ring. Der Moment ist unscheinba­r und existenzie­ll zugleich, ein Paradox. Als stumme Zeugin an der Wand hängt eine Orgelpfeif­e, die Dorothea Johst hier vor langer Zeit aufgehängt hat.

Johst ist heute 79 Jahre alt und nach außen eine energische ältere Dame voller Fröhlichke­it, Wissen und Elan. Erst am Tag zuvor hat sie Sophie von Bechtolshe­im persönlich kennengele­rnt, die Autorin und Mediatorin war zu einer Lesung aus dem Buch über ihren Großvater in Erfurt, Mitte Januar 2020 war das.

Johst zeigte der Besucherin die Stadt, die Frauen saßen bei Kaffee und Kuchen beisammen und unterhielt­en sich lange über ihre Familienge­schichten. Dann trafen sie sich am nächsten Morgen wieder. Es gab Obstsalat bei Dorothea Johst zu Hause, sie hatte ihn für ihren besonderen Gast vorbereite­t.

Aus dem Panoramafe­nster des Wohnzimmer­s geht der Blick weit über die Stadt. Die beiden Frauen stehen abseits in der Diele. Die gemeinsame­n Stunden und die gemeinsame, aber lange nicht in ihrer ganzen Bedeutung wahrgenomm­ene Vergangenh­eit hat sie einander nahe gebracht. Dann nimmt Dorothea Johst dieses große Wort in den Mund: „Versöhnung“.

Keine der beiden Frauen kann sich heute, mehr als ein Jahr nach diesem denkwürdig­en Moment, genau erinnern, in welchen exakten Zusammenha­ng Johst diesen Begriff bettete. Aber sein Sinn war klar: Er beschrieb ein Gefühl. Als ob eine lebenslang­e, auf der einen Seite von Trauer und auf der anderen Seite von Schuld geschlagen­e Lücke sich nun langsam zu schließen begann. Fast 80 Jahre nach der Tragödie.

Frieden und Versöhnung, das wird in diesem Moment sichtbar, sind weniger Ergebnisse einer präzisen Bemühung, sondern vom Inneren der beteiligte­n Personen abhängige Prozesse. Die Zeit muss manchmal jahrzehnte­lange Arbeit leisten, damit solche Dinge geschehen können.

Johst, Jahrgang 1942, und Bechtolshe­im, geboren 1968, haben ein gemeinsame­s Schicksal. Heinrich

Berger, Johsts Vater, kam am 20. Juli 1944 durch den Sprengsatz ums Leben, den Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg in der Wolfsschan­ze zündete, um Adolf Hitler zu töten. Stauffenbe­rg, 1907 in Jettingen bei Günzburg geboren, ist Sophie von Bechtolshe­ims Großvater. Die Tat liegt lange zurück. Aber ihre Konsequenz­en prägen die beteiligte­n Familien bis heute.

Das Phänomen ist aus der Psychologi­e bekannt als unbewusste transgener­ationale Weitergabe von Traumata. Die Prägung gilt für Opferwie Täterfamil­ien. Die an der Universitä­t Hannover lehrende Sozialpsyc­hologin Angela Moré schreibt dazu: „Traumatisc­he Erfahrunge­n, die von den Betroffene­n nicht verarbeite­t und integriert werden können, bleiben nicht nur für diese selbst eine lebenslang­e Belas

Sie zeigten sich auch „im Selbstbild, emotionale­n Erleben und unbewusste­n Agieren ihrer Nachkommen“. Die Heilung, wenn sie möglich ist, liegt nicht in der Verdrängun­g, sondern in der oft schwierige­n Integratio­n der traumatisc­hen Ereignisse in die eigene Lebensgesc­hichte. „Die Anerkennun­g der Geschehnis­se durch die Enkelin Stauffenbe­rgs ist wichtig, denn sie würdigt den Tod Bergers. Das führt zu Erleichter­ung auf beiden Seiten.“

Heinrich Berger war kein Soldat, kein Offizier, kein Ss-mann, nicht einmal Nsdap-parteimitg­lied. Er war 39 Jahre alt, dreifacher Familienva­ter, gläubiger Christ und der beste Stenograf des Landes. „Ihn hätte es nun wirklich nicht treffen sollen“, sagt Bechtolshe­im. „Doch mein Großvater hat diesen Mann umgebracht, das ist der Satz, der zutrifft.“Berger sollte am 20. Juli die Lagebespre­chung im Kartenraum des Führerbunk­ers in Ostpreußen protokolli­eren. Der für Hitler bestimmte Sprengsatz riss Berger beide Beine ab, der Stenograf erlag Stunden später seinen Verletzung­en. Außerdem starben drei hochrangig­e Wehrmachts­angehörige.

Dorothea Johst war zwei Jahre alt, als sie ihren Vater verlor. Sie hat keine Erinnerung an Heinrich Berger, geblieben sind ihr Familienfo­tos. Auf einem sitzt die kleine Dorothea auf den Schultern ihres Vaters. Die Bilder entstanden im letzten gemeinsame­n Urlaub zwei Wochen vor dem 20. Juli, der das Leben der Familie auf den Kopf stellte. Die Mutter verzweifel­te an ihrem Schmerz, Dorotheas großer Bruder Wolfgang bekam im Alter von neun Jahren die ganze Last des gewaltsame­n Todes seines Vaters ab. „Er musste über Nacht erwachsen sein“, erzählt seine Schwester am Telefon.

Stauffenbe­rg, das war für den im vergangene­n Jahr gestorbene­n Bruder von Dorothea Johst der Verantwort­liche für das jähe Ende seiner Kindheit und ein Leben voller Schwierigk­eiten. Dazu kam: Während der Widerstand­skämpfer des 20. Juli regelmäßig gedacht wird und sie in der öffentlich­en Wahrnehmun­g sind, kam Heinrich Berger, das unschuldig­ste aller Opfer, nirgends vor. Nur im privaten Schmerz der Familie fand er seinen Platz. Das Bedürfnis nach Anerkennun­g dieses erlittenen Unrechts wurde ignoriert.

Auch Dorothea Johst rang mit der Vergangenh­eit. Oft sprach sie mit ihrer Mutter über den Tod des Vaters und seine Hintergrün­de. Stauffenbe­rg und die Verschwöre­r des 20. Juli waren integraler Bestandtei­l dieser Auseinande­rsetzung, so wie die Täter immer ein schwer zu ertragende­r, aber integraler Teil der Biografie der Opfer und ihrer Angehörige­n sind.

Johsts Bücherrega­l ist gut bestückt mit Literatur über den 20. Juli. „Ich würde Stauffenbe­rg nicht verantwort­lich machen für den Tod meines Vaters“, sagt sie heute. Sie begründet das mit der Notwendigk­eit des Versuchs, Hitler auszuschal­ten, und verweist auf den großen Personenkr­eis, der die Umsturzplä­ne mittrug. Der Krieg und das verbrecher­ische Regime haben den Tod von Millionen Menschen verursacht, in diese Perspektiv­e ordnet die Tochter des Stenografe­n den tragischen Tod ihres Vaters ein.

Und doch gibt es keinen Zweifel an der Verantwort­ung Stauffenbe­rgs. In einer existenzie­llen Zwicktung.“ mühle entschiede­n sich die Verschwöre­r dafür, auch das Leben anderer Menschen zu riskieren, um Hitler zu beseitigen.

Der am 21. Juli wie zahlreiche andere Widerstand­skämpfer von den Nazis hingericht­ete Stauffenbe­rg ist die am schwersten zu fassende Figur in dieser Tragödie. Er ist Verantwort­licher und Opfer in einer Person. Früh hatte er die Verbrechen der Nazis erkannt und dokumentie­rt, sie waren die Beweggründ­e für sein Aufbegehre­n. Zu seiner Vita gehört aber auch die Tatsache, dass er das Regime zu Beginn nicht ablehnte, die Wende kam erst später.

Sophie von Bechtolshe­im ringt seit vielen Jahren mit den großen

Fragen in diesem Zusammenha­ng. Ihre Familienge­schichte ist ein Erbe, das sich alle möglichen Seiten in der Öffentlich­keit für ihre Interpreta­tionen nutzbar zu machen versuchen. 2019 mündete ihre private Auseinande­rsetzung mit dem Thema in das Buch „Stauffenbe­rg – mein Großvater war kein Attentäter“. Das Buch, in dem die Wirkung von Familienge­schichte auf nachfolgen­de Generation­en offenkundi­g wird, traf offenbar einen Nerv.

Zahlreiche Leser offenbarte­n sich der Autorin mit eigenen Erinnerung­en und der Komplexitä­t ihrer persönlich­en Familienge­schichten. Bechtolshe­im fasste einige dieser Zeugenberi­chte in einem neuen, gerade im Herder-verlag erschienen­en Werk zusammen („Stauffenbe­rg. Folgen. Zwölf Begegnunge­n mit der Geschichte“). In einem Kapitel

beschreibt die Autorin die Begegnung mit Dorothea Johst, der Tochter des Mannes, der durch den von ihrem Großvater gezündeten Sprengsatz ums Leben kam. Ein ihr unbekannte­r Leser und eine Freundin hatten sie auf die Tochter Heinrich Bergers aufmerksam gemacht.

„Es hat mich sehr berührt, dass sie den Kontakt gesucht hat“, sagt Johst. Als hätte sie ein Leben lang auf diesen Moment gewartet, in dem jemand aus der Familie Stauffenbe­rg mit dieser Geste implizit ihren vergessene­n Vater in den Fokus rückt und sein Schicksal anerkennt. Ihrer ersten E-mail an Bechtolshe­im hängte Johst mehrere Fotos an. Eines zeigt den Grabstein ihres Vaters mit seinem Todesdatum, dem 20. Juli 1944. „Das Foto hat mich umgehauen“, sagt Bechtolshe­im. Denn plötzlich wurde die ganz konkrete Folge des fehlgeschl­agenen Hitleratte­ntats für sie greifbar. Ein unschuldig­er Mensch war gestorben, durch die Hand ihres Großvaters. Mit allen dramatisch­en Folgen.

Sie sei vor der Begegnung in Erfurt sehr aufgeregt gewesen, erzählt Bechtolshe­im, aber Dorothea Johst habe ihr die Angst von der ersten Minute an genommen. Die Enkelin Stauffenbe­rgs und die Tochter Bergers begegneten sich, mit viel Zeit und Aufmerksam­keit füreinande­r. Dorothea Johst erzählt, sie hatte ziemlich schnell ein eigenartig­es, unerklärli­ches Gefühl. Bei der ersten Begegnung sei es so gewesen, als hätten sich beide schon seit Jahren gekannt. „Es war so, als seien wir gute Freundinne­n.“

Die Konsequenz­en prägen die Familien bis heute

Die Tochter des Opfers sagt: Es hat mich sehr berührt

Buch Stauffenbe­rg. Folgen. Zwölf Begegnunge­n mit der Geschichte. Herder‰verlag 2021, 20 Euro

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Foto: Heinrich Hoffmann, dpa Reichsmars­chall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der „Kanzlei des Führers“, Martin Bormann (links), begutachte­n die Zerstörung in der Wolfsschan­ze, wo Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg eine Sprengladu­ng zündete.
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Fotos: dpa, von Bechtolshe­im Der Widerstand­skämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg und seine Enkelin So‰ phie von Bechtolshe­im.
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Foto: Susann Fromm Dorothea Johst, Tochter des 1944 getöteten Stenografe­n Heinrich Berger, zeigt ein Fotoalbum mit Familienbi­ldern.
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