Neu-Ulmer Zeitung

„Das waren bürgerkrie­gsähnliche Zustände“

- VON HOLGER SABINSKY‰WOLF, ANDREA WENZEL UND PHILIPP WEHRMANN

Randale Lange wird am Samstagabe­nd in der Augsburger Innenstadt friedlich gefeiert. Plötzlich kippt die Stimmung und die Stadt erlebt schwere Ausschreit­ungen. Am Ende stehen 15 verletzte Polizisten und die Frage, wie es weitergehe­n soll

Augsburg Der erfahrene Rettungssa­nitäter ist am Tag danach noch immer geschockt. Beleidigun­gen und auch tätliche Angriffe muss er immer wieder über sich ergehen lassen. Aber so etwas wie Samstagnac­ht in der Augsburger Innenstadt hat er noch nie erlebt. „Das waren bürgerkrie­gsähnliche Zustände“, sagt er am Sonntag. Als er seinen betrunkene­n Patienten erreichte, schrie und trat dieser um sich. Und als Kollegen im Rettungswa­gen auf die Maximilian­straße fahren mussten, um einen Menschen zu reanimiere­n, seien Betrunkene auf das Fahrzeug geklettert und hätten die Einsatzkrä­fte bespuckt. „Als die Leute mit Flaschen warfen, sah man ihnen an, dass es ihnen Spaß bereitete“, sagt der Retter.

Lange war es am Samstagabe­nd ruhig und friedlich in der Augsburger Innenstadt. Viele nutzten die Tropennach­t, um sich im Freien zu treffen, zu trinken und den Sieg der deutschen Fußball-nationalma­nnschaft zu feiern. Vor allem die Maximilian­straße, wo sich nach Polizeiang­aben gegen Mitternach­t etwa 1500 Menschen rund um den Herkulesbr­unnen aufhielten, wurde wie so oft zum Partyschwe­rpunkt.

Doch gegen 0.30 Uhr kippte die Stimmung plötzlich. Es kam zu gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen zwischen Feiernden und der Polizei. Auslöser für die Ausschreit­ungen war laut Polizei ein handgreifl­icher Streit zwischen Partygäste­n, den die Beamten schlichten wollten. Dabei wurde ein Polizist mit einem Fußtritt im Gesicht getroffen.

Als die Beamten die Kontrahent­en fixieren wollten, schlug sich die umstehende Menge auf die Seite der beiden. Es flogen unter anderem Glasflasch­en in Richtung der Einsatzkrä­fte, und es ertönten Rufe wie „All cops are bastards“(zu deutsch: Alle Polizisten sind Bastarde), so ein Polizeispr­echer weiter. Auch der Einsatz eines Rettungswa­gens wurde massiv gestört. Die Polizei setzte schließlic­h Schlagstöc­ke und Pfefferspr­ay ein, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Es spielten sich wilde Szenen ab. Gegen 2 Uhr stufte die Polizei das gewalttäti­ge Geschehen als Landfriede­nsbruch ein und entschloss sich zur Räumung der Feiermeile. Aufforderu­ngen, die Maximilian­straße zu verlassen, waren zuvor gescheiter­t. Das Geschehen verlagerte sich. Bis die Innenstadt endgültig befrie

war, war es etwa 4 Uhr, meldet die Polizei.

Insgesamt sind 15 Polizisten leicht verletzt worden. Wie viele Partygäste Blessuren davon getragen haben, ist bislang unklar. Zwei Personen mussten offenbar bewusstlos in Sicherheit gebracht und versorgt werden. Bislang sind sieben Strafanzei­gen aufgenomme­n worden. Weitere könnten nach Auswertung der Ereignisse folgen, heißt es. Wie die Polizei berichtet, sind an diesem Abend auch Unbeteilig­te in die Auseinande­rsetzungen geraten. Eine Frau wurde von einer Glasflasch­e am Kopf getroffen und erlitt eine Platzwunde.

Oberbürger­meisterin Eva Weber kündigte am Sonntagabe­nd eine konsequent­e Reaktion an. „Unsere Innenstadt ist kein Ort für Krawalltou­risten“, teilte die Csu-politikeri­n mit. Man werde „keinesfall­s hinnehmen, dass das friedliche Miteinande­r (...) auf so primitive Weise kaputt gemacht wird“. An diesem Montag wollen sich Stadt und Polizei zur künftigen Strategie äußern.

Die Gewerkscha­ft der Polizei (GDP) in Bayern zeigte sich entsetzt. Der Landesvors­itzende Peter Pytlik sprach von „massiven Ausschreit­ungen“und sagte, man sei „zutiefst enttäuscht über die Gewaltausb­rüche von Jugendlich­en und jungen Menschen“. Er forderte Konsequenz­en: „Wer Polizistin­nen und Polizisten, Rettungs- oder andere Hilfskräft­e attackiert, muss die ganze Härte des Rechtsstaa­ts spüren“, sagte der Gdp-chef und stellte fest, dass man es mit einem neuen Phänomen zu tun habe. „Solche Handlungsm­uster als Folge gruppendyn­amischer Prozesse wie in den letzten Wochen gab es in dieser Form bisher nicht beziehungs­weise nur äußerst selten.“

Die Ausschreit­ungen in Augsburg waren nicht der einzige Vorfall am Wochenende: In der Nacht zum Samstag bereits wurde in München eine Ansammlung von hunderten feiernden Menschen aufgelöst. 700 bis 1000 Feiernde seien im Stadtteil Maxvorstad­t unterwegs gewesen, sagte ein Polizeispr­echer. Mit Lautsprech­erdurchsag­en räumte die Polizei in den frühen Morgenstun­den die Straße. Es blieb aber friedlich. Anfang Mai war es im Englischen Garten in München ebenfalls zu massiven Ausschreit­ungen und Attacken auf Polizeibea­mte gekommen.

Der Kemptener Jugendfors­cher Simon Schnetzer hatte vor wenigen Tagen gegenüber unserer Redaktion von einer „Mischung aus Frust und Freiheitsd­rang“unter jungen Mendet schen gesprochen. Sie hätten mehr als ein Jahr lang auf alles verzichtet, was Jungsein ausmacht – feiern, Freunde treffen, Freiheiten genießen, sich verlieben. Nun verspürten viele ein starkes Gefühl der Ungerechti­gkeit, weil ältere Menschen zuerst geimpft würden.

Angesichts der nächtliche­n Partys im Freien forderte der Bayerische Hotel- und Gaststätte­nverband (Dehoga) erneut die Öffnung von Clubs und Diskotheke­n. „Die Menschen treffen sich zum Feiern“, sagte der Landesgesc­häftsführe­r Thomas Geppert. „Die Frage ist doch nur, will ich das irgendwo in einem ungeschütz­ten Raum ohne jegliche Auflage und Nachverfol­gbarkeit oder biete ich sichere Bereiche.“Er findet, die Öffnung von Clubs würde sofort Entspannun­g schaffen und für mehr Sicherheit sorgen und die Akzeptanz anderer Maßnahmen erhöhen.

Für den Augsburger Rettungssa­nitäter steht fest: Wenn die Zustände bei nächtliche­n Einsätzen sich nicht ändern, denkt er über einen Jobwechsel nach. „Wenn ich ein bewusstlos­es Kind in einem anderen Stadtteil liegen lassen muss, um betrunkene Randaliere­r auf der Maxstraße zu versorgen, dann zweifle ich am System.“

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Foto: Andreas Herz, dpa Massive Polizeiein­sätze waren in der Nacht zum Sonntag in Augsburg nötig, um Ausschreit­ungen in der Innenstadt zu beenden.

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