„Das waren bürgerkriegsähnliche Zustände“
Randale Lange wird am Samstagabend in der Augsburger Innenstadt friedlich gefeiert. Plötzlich kippt die Stimmung und die Stadt erlebt schwere Ausschreitungen. Am Ende stehen 15 verletzte Polizisten und die Frage, wie es weitergehen soll
Augsburg Der erfahrene Rettungssanitäter ist am Tag danach noch immer geschockt. Beleidigungen und auch tätliche Angriffe muss er immer wieder über sich ergehen lassen. Aber so etwas wie Samstagnacht in der Augsburger Innenstadt hat er noch nie erlebt. „Das waren bürgerkriegsähnliche Zustände“, sagt er am Sonntag. Als er seinen betrunkenen Patienten erreichte, schrie und trat dieser um sich. Und als Kollegen im Rettungswagen auf die Maximilianstraße fahren mussten, um einen Menschen zu reanimieren, seien Betrunkene auf das Fahrzeug geklettert und hätten die Einsatzkräfte bespuckt. „Als die Leute mit Flaschen warfen, sah man ihnen an, dass es ihnen Spaß bereitete“, sagt der Retter.
Lange war es am Samstagabend ruhig und friedlich in der Augsburger Innenstadt. Viele nutzten die Tropennacht, um sich im Freien zu treffen, zu trinken und den Sieg der deutschen Fußball-nationalmannschaft zu feiern. Vor allem die Maximilianstraße, wo sich nach Polizeiangaben gegen Mitternacht etwa 1500 Menschen rund um den Herkulesbrunnen aufhielten, wurde wie so oft zum Partyschwerpunkt.
Doch gegen 0.30 Uhr kippte die Stimmung plötzlich. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Feiernden und der Polizei. Auslöser für die Ausschreitungen war laut Polizei ein handgreiflicher Streit zwischen Partygästen, den die Beamten schlichten wollten. Dabei wurde ein Polizist mit einem Fußtritt im Gesicht getroffen.
Als die Beamten die Kontrahenten fixieren wollten, schlug sich die umstehende Menge auf die Seite der beiden. Es flogen unter anderem Glasflaschen in Richtung der Einsatzkräfte, und es ertönten Rufe wie „All cops are bastards“(zu deutsch: Alle Polizisten sind Bastarde), so ein Polizeisprecher weiter. Auch der Einsatz eines Rettungswagens wurde massiv gestört. Die Polizei setzte schließlich Schlagstöcke und Pfefferspray ein, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Es spielten sich wilde Szenen ab. Gegen 2 Uhr stufte die Polizei das gewalttätige Geschehen als Landfriedensbruch ein und entschloss sich zur Räumung der Feiermeile. Aufforderungen, die Maximilianstraße zu verlassen, waren zuvor gescheitert. Das Geschehen verlagerte sich. Bis die Innenstadt endgültig befrie
war, war es etwa 4 Uhr, meldet die Polizei.
Insgesamt sind 15 Polizisten leicht verletzt worden. Wie viele Partygäste Blessuren davon getragen haben, ist bislang unklar. Zwei Personen mussten offenbar bewusstlos in Sicherheit gebracht und versorgt werden. Bislang sind sieben Strafanzeigen aufgenommen worden. Weitere könnten nach Auswertung der Ereignisse folgen, heißt es. Wie die Polizei berichtet, sind an diesem Abend auch Unbeteiligte in die Auseinandersetzungen geraten. Eine Frau wurde von einer Glasflasche am Kopf getroffen und erlitt eine Platzwunde.
Oberbürgermeisterin Eva Weber kündigte am Sonntagabend eine konsequente Reaktion an. „Unsere Innenstadt ist kein Ort für Krawalltouristen“, teilte die Csu-politikerin mit. Man werde „keinesfalls hinnehmen, dass das friedliche Miteinander (...) auf so primitive Weise kaputt gemacht wird“. An diesem Montag wollen sich Stadt und Polizei zur künftigen Strategie äußern.
Die Gewerkschaft der Polizei (GDP) in Bayern zeigte sich entsetzt. Der Landesvorsitzende Peter Pytlik sprach von „massiven Ausschreitungen“und sagte, man sei „zutiefst enttäuscht über die Gewaltausbrüche von Jugendlichen und jungen Menschen“. Er forderte Konsequenzen: „Wer Polizistinnen und Polizisten, Rettungs- oder andere Hilfskräfte attackiert, muss die ganze Härte des Rechtsstaats spüren“, sagte der Gdp-chef und stellte fest, dass man es mit einem neuen Phänomen zu tun habe. „Solche Handlungsmuster als Folge gruppendynamischer Prozesse wie in den letzten Wochen gab es in dieser Form bisher nicht beziehungsweise nur äußerst selten.“
Die Ausschreitungen in Augsburg waren nicht der einzige Vorfall am Wochenende: In der Nacht zum Samstag bereits wurde in München eine Ansammlung von hunderten feiernden Menschen aufgelöst. 700 bis 1000 Feiernde seien im Stadtteil Maxvorstadt unterwegs gewesen, sagte ein Polizeisprecher. Mit Lautsprecherdurchsagen räumte die Polizei in den frühen Morgenstunden die Straße. Es blieb aber friedlich. Anfang Mai war es im Englischen Garten in München ebenfalls zu massiven Ausschreitungen und Attacken auf Polizeibeamte gekommen.
Der Kemptener Jugendforscher Simon Schnetzer hatte vor wenigen Tagen gegenüber unserer Redaktion von einer „Mischung aus Frust und Freiheitsdrang“unter jungen Mendet schen gesprochen. Sie hätten mehr als ein Jahr lang auf alles verzichtet, was Jungsein ausmacht – feiern, Freunde treffen, Freiheiten genießen, sich verlieben. Nun verspürten viele ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit, weil ältere Menschen zuerst geimpft würden.
Angesichts der nächtlichen Partys im Freien forderte der Bayerische Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) erneut die Öffnung von Clubs und Diskotheken. „Die Menschen treffen sich zum Feiern“, sagte der Landesgeschäftsführer Thomas Geppert. „Die Frage ist doch nur, will ich das irgendwo in einem ungeschützten Raum ohne jegliche Auflage und Nachverfolgbarkeit oder biete ich sichere Bereiche.“Er findet, die Öffnung von Clubs würde sofort Entspannung schaffen und für mehr Sicherheit sorgen und die Akzeptanz anderer Maßnahmen erhöhen.
Für den Augsburger Rettungssanitäter steht fest: Wenn die Zustände bei nächtlichen Einsätzen sich nicht ändern, denkt er über einen Jobwechsel nach. „Wenn ich ein bewusstloses Kind in einem anderen Stadtteil liegen lassen muss, um betrunkene Randalierer auf der Maxstraße zu versorgen, dann zweifle ich am System.“