Wie aus Gegenwind plötzlich Rückenwind werden kann
Haben Sie schon mal gesehen, wie ein Knoten platzt? Am Samstag ist es passiert - es hat so richtig „rums“gemacht. 4:2 gegen Portugal, kaum einer hatte dem deutschen Team das zugetraut. Wie so etwas geht? Nur mit guter Vorbereitung.
Drucksituationen meistert man am besten, wenn man sie als Herausforderung versteht, nicht als Bedrohung.
Jeder von uns hat Ähnliches schon erlebt. In der Schule, im Leben: wenn man vor einer Prüfung steht und zeigen soll, was man kann. Manche erleben eine lähmende Angst und die Gedanken kreisen ums Scheitern. Wir haben dann das starke Bedürfnis nach Kontrolle
und hinterfragen vieles, was uns an guten Tagen ganz selbstverständlich und leicht von der Hand geht. Bei einem Fußballer kann diese Furcht vor dem Scheitern dazu führen, dass er sich zu sehr auf seine Bewegungsabläufe konzentriert: Automatismen und Lockerheit gehen verloren, er kann nicht frei aufspielen.
Andere brauchen Druck. Nur noch ein Tag Zeit für die Steuererklärung? Oh je! Und doch gelingt es uns, sie pünktlich abzugeben, der Druck hat uns geholfen.
Ja, Prüfungen können sogar Spaß machen - wenn wir wissen, dass wir gut vorbereitet sind. Wir freuen uns, dass wir unser hart erarbeitetes Wissen zeigen können, es ist eine Chance, uns auszuzeichnen. Deshalb ist dieser Sieg auch ein Erfolg von Joachim Löw und seinem Trainerteam. Nur wenn jeder weiß, was er zu tun hat und hinter dem Konzept steht, kann eine Mannschaft erfolgreich sein. Dann wird aus vielen Einzelteilen ein Gebilde, in dem jeder seine Rolle findet und seinen Auftrag annimmt.
Robin Gosens etwa. Ein Draufgänger, auf den ersten Blick nicht gerade der biedere Schwiegersohntyp. Der ungestüme Neuling, er ist hungrig und strahlt das mit jeder Faser aus. Solche Typen braucht ein Team. Aber nicht nur.
Wichtig sind auch die erfahrenen Gentlemen wie Manuel Neuer oder Toni Kroos, die stets präsent und korrekt wirken. Oder Wortführer wie Thomas Müller, die mal für gute Laune sorgen, aber auch für klare Ansagen. Eine Mannschaft lebt auch von ihren Gegensätzen, sie muss sich im Laufe eines Turniers „zusammenraufen“.
Deshalb gehen Mannschaften, die ein Turnier gewinnen, meistens keinen geradlinigen Weg, sondern müssen auch schwerere Phasen überwinden. Nur wer sich Gegenwind gestellt hat, wird Rückenwind bekommen.
Dass Löw an seinem System und seinem Team aus dem Frankreichspiel festgehalten hat, passt ins Bild. Er hat daran geglaubt, und er wird es sicher mit seinen Führungsspielern besprochen haben. Es entspricht seinem Führungsstil, dass er Leute mit einbezieht und nichts gegen den Willen der Spieler durchdrückt.
Sicher entscheidet der Bundestrainer am Ende verantwortlich, aber ich denke nicht, dass er die Entscheidungsfindung im Alleingang vornimmt.
Dass diese Strategie und dieser Weg nun zum Erfolg geführt haben, kann eine Initialzündung für das gesamte Turnier sein. Wir kennen solche Effekte aus kreativen Prozessen. Wenn Künstler lange grübeln und dann plötzlich die zündende Idee da ist, kann man sie rufen hören: Heureka, jetzt hab ich’s! Plötzlich wird alles leichter. Aus dem Gegenwind wird Rückenwind. Man muss ihn dann nur weiter nutzen.
Zur Person: Babett Lobinger ist seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln (Abteilung Leistungssport).