Arbeitsmarkt fährt Achterbahn
Wirtschaft Dem gelobten Land des Kapitalismus gehen die Arbeitskräfte aus: In den USA können neun Millionen Stellen nicht besetzt werden.
Sind die Löhne zu niedrig? Bekommen Arbeitslose zu viel Unterstützung? In einem Freizeitpark in New Jersey zeigt sich: Es ist kompliziert
Wildwood Mit seinen Tarnnetzen über dem schwimmbadgroßen Becken und den Kanonenrohren rings um das Wasser macht das „Boat Tag“an der Strandpromenade von Wildwood einen martialischen Eindruck. Normalerweise können vergnügungssüchtige Gäste hier für ein paar Dollar Schiffe versenken. Trifft man mit einem Plastikball ein herumfahrendes Boot, schießt eine mächtige Fontäne in die Luft.
Doch an diesem Morgen herrscht Waffenstillstand an der Ballerbude. „Bitte nicht betreten“, steht auf einem weiß-blauen Schild. Erst am frühen Abend wird die Seeschlacht eröffnet. Auch die wenige Schritte entfernte Achterbahn „Great White“, die mit 80 Stundenkilometern fast 30 Meter in die Tiefe stürzt, steht tagsüber still. Und der Aquapark mit Riesenrutsche ist von montags bis freitags ganz geschlossen.
Bei angenehmen Temperaturen über 20 Grad, viel Sonne und dem Wegfall aller Corona-restriktionen könnte eigentlich die Hochsaison beginnen in Wildwood, einem Strandort am Südzipfel von New Jersey, dessen Bevölkerung im Sommer regelmäßig von 5000 auf 250000 Menschen anwächst. Der Nachholbedarf nach den Monaten der Pandemie ist groß. „Wir erwarten dieses Jahr einen Rekord-andrang“, sagt Denise Beckson, die Vizepräsidentin des großen Vergnügungsparks namens „Morey’s Piers“. Trotzdem arbeiten mehrere Fahrgeschäfte und Attraktionen noch im Vorsaisonmodus. Auf der kilometerlangen Promenade, wo laute Spielhöllen, T-shirt-läden und Zuckerwatteverkäufer locken, sind manche Läden ganz geschlossen. Es gibt zu wenig Personal.
„Help wanted“(Hilfe gesucht) steht an fast jedem Laden in leuchtend roten Buchstaben. „Köche und Tellerwäscher gesucht“, hat auch das Lokal „Pink Cadillac Diner“annonciert und verspricht jedem Bewerber einen „Bonus“. Weil er keinen Bäcker findet, hat Mike Madafias, der Eigentümer des „White Dolphin Restaurant“nebenan, die Pizza von der Karte gestrichen.
Wildwood ist kein Sonderfall. Während Amerika angesichts hoher Impfquoten und sinkender Infektionsraten nach dem Stillstand der Corona-monate mit gewaltigem Tempo zurück in die Normalität steuert und das verpasste Leben nachholen möchte, erlebt die boomende Wirtschaft ein ungewohntes Phänomen: Dem gelobten Land des Kapitalismus gehen die Arbeitskräfte aus.
Von New Jersey bis Kalifornien ist die Lage ähnlich: Gerade hat Paulina Chaidez, die Inhaberin des beliebten mexikanischen Frühstücksrestaurants „Cocina 35“in San Diego, trotz regelmäßiger Warteschlangen vor ihrer Tür erstmals einen Ruhetag eingeführt. „Wir können nicht anders“, hat sie dem Sender NBC erzählt. Chaidez fehlen Köche, Kassiererinnen und Reinigungspersonal. Statt 30 wöchentlichen Bewerbungen wie vor der Pandemie hat sie in den vergangenen zwei Monaten gerade mal zwei bekommen.
Jeden Tag wird das Problem deutlicher: Am vergangenen Wochenende ging an den Tankstellen in Pueblo und Canon City im ländlichen Süden von Colorado das Benzin aus, weil die Tanklaster nicht kamen – es mangelt an Fahrern. Auf den Hamptons, der exquisiten Sommerfrische vieler New Yorker, müssen diesen Sommer möglicherweise einige schicke Strandklubs geschlossen bleiben, weil sich keine Bademeister finden. Und dem Autobauer General Motors fehlen 450 Vollund Teilzeitkräfte für ein Werk in Michigan.
Um die Personalnot zu lindern, zeigen sich viele Unternehmen plötzlich großzügig: Der Versender Amazon setzt seinen Mindestlohn von bislang 15 Dollar auf bis zu 18 Dollar hoch. Der Hamburger-gigant Mcdonald’s zahlt Einsteigern nun zwischen elf und 17 Dollar, ein Plus von zehn Prozent. Und die Fast-food-kette Chipotle bietet jedem Beschäftigten, der neue Bewerber anschleppt, abhängig von deren Qualifikation zwischen 200 und 750 Dollar Kopfprämie.
Doch der Engpass besteht weiter. Nach offiziellen Angaben sind derzeit rund neun Millionen Stellen in den USA unbesetzt. Das ist der höchste Wert seit zwei Jahrzehnten.
Zur selben Zeit wird auch in Deutschland die Freude über die niedrigen Inzidenzen und die Hoffnung auf einen Neustart eingebremst. Beispiel Gastronomie: Erst jüngst zeigte eine Umfrage unter Mitgliedern des Deutschen Hotelund Gaststättenverbands (Dehoga), wie eng es in dieser Sommersaison aussieht. Mehr als 42 Prozent der Teilnehmer berichteten, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während des Lockdowns mit seinen geschlossenen Restaurants in andere Branchen abgewandert seien. Dabei hätten fast drei Viertel (73,7 Prozent) der Betriebe „mit aller Kraft gekämpft“, um das Beschäftigungsniveau durch die Pandemie-zeit zu halten, während die übrigen (26,3 Prozent) Kündigungen aussprechen mussten. Auch in der Analyse des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zur Tourismus-konjunktur wird der Engpass deutlich: 48 Prozent der befragten Gastronomen bezeichneten den Fachkräftemangel als ernstes Risiko für das eigene Geschäft – beinahe eine Verdreifachung gegenüber dem
Vorjahreszeitpunkt (17 Prozent). Nicht viel besser sieht es in anderen Branchen aus. Maschinenbauer, Handwerker, verarbeitendes Gewerbe – überall fehlt es an qualifizierten Fachkräften. Dort, wo es schon vor Corona eng war, hat sich das Problem verschärft. Die Auftragsbücher sind wieder gut gefüllt, die Zahl der Zuwanderer wurde durch Corona jäh ausgebremst, die demografische Entwicklung sorgt für zu wenig Nachwuchs. Und: Der Fokus auf den Klimawandel und die Digitalisierung verlangt nach Mitarbeitern mit speziellen Ausbildungen, die aber sind dünn gesät. Der Personalengpass könnte damit zur Fortschritts- und Aufschwungsbremse zugleich werden.
Als Personalchefin des größten Vergnügungsparks an der Atlantikküste von New Jersey kennt auch Denise Beckson in den USA die Probleme auf dem Markt allzu gut. Ihr Unternehmen ist besonders betroffen, weil es nur im Sommer öffnet.
Rund 1500 Saisonarbeiter muss Beckson jedes Jahr anheuern. Wie üblich hat sie damit im Februar begonnen. Doch zum Saisonstart Anfang Mai waren gerade mal 500 Leute gefunden. „Wir konnten es kaum glauben“, berichtet die Managerin.
Eilig entwarf das Familienunternehmen einen Notfallplan: Es hob den Stundenlohn für ungelernte Helfer um 2,50 Dollar über den in New Jersey gesetzlich vorgeschriebenen Satz auf 13,50 Dollar an und legte einen Durchhaltebonus von 1,50 Dollar zum Ende des Sommers drauf. Beckson platzierte Werbespots bei Google, Spotify und im Radio. Sie warb an Schulen und Universitäten, bahnte eine Kooperation mit der Handelskammer von Puerto Rico an. Gezielt schaltete sie Anzeigen in Bundesstaaten, in denen der Mindestlohn kaum mehr als sieben Dollar beträgt. Bei einer Reichweite von einer Million Menschen erntete sie sechs Bewerbungen. Niemand trat den Job an.
Äußerst mühsam hat sich seither die Personallücke verkleinert. Immer noch fehlen mehrere hundert Beschäftigte – vor allem für die absolute Hochsaison nach dem Unabhängigkeitstag am 4. Juli. „Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können“, sagt Beckson. Inzwischen hilft der Marketing-direktor als Ticketverkäufer an einem Karussell aus. Die Personalchefin selber arbeitet gelegentlich eine zweite Schicht an einem Getränkestand. Trotzdem werden im Juli nicht alle Fahrgeschäfte öffnen können. Die Kunden, sagt Beckson, hätten dafür Verständnis. Sie wüssten ja um das Problem.
Woher aber rührt der plötzliche Personalmangel nach der Pandemie? Für die wirtschaftsliberalen Republikaner ist die Sache klar. Sie machen die vermeintlichen sozialen Wohltaten der Biden-regierung für den Missstand verantwortlich. Tatsächlich beziehen derzeit 15 Millionen Amerikaner irgendeine Form von Arbeitslosenunterstützung. Zusätzlich zur regulären Leistung, die in New Jersey maximal 713 Dollar in der Woche beträgt, bekommen sie aus Bidens Corona-hilfspaket bis zum September wöchentlich weitere 300 Dollar. So kann durchaus ein Stundenlohn von 20 Dollar zusammenkommen. „Die Regierung hat einen Anreiz geschaffen, zu Hause zu bleiben, statt zur Arbeit zurückzukehren“, wettert Kevin Stitt, der republikanische Gouverneur von Oklahoma. Inzwischen 25 republikanische Gouverneure und ein demokratischer Kollege aus Louisiana haben deshalb zu einem radikalen Mittel gegriffen: Sie zahlen die 300-Dollar-sonderhilfe des Bundes einfach nicht mehr aus.
Linke Ökonomen wie der Berkeley-professor Robert Reich halten die Argumentation für verdreht. „Es gibt keinen Arbeitskräftemangel. Es gibt nur einen Mangel an Arbeitgebern, die bereit sind, ihren Beschäftigten einen Lohn zu zahlen, von dem sie leben können“, hält der Ex-arbeitsminister von Bill Clinton dagegen.
Exakt dasselbe Argument bringt Clemens Fuest, Präsident des Leibniz-instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) an der Universität München, auch für Deutschland ins Spiel. „Wer sich über Fachkräftemangel beschwert, sollte die Löhne erhöhen“, sagte er jüngst in einem Interview. Fritzi Köhler-geib, Chefvolkswirtin der Förderbank KFW, sieht Deutschland vor enormen Herausforderungen. „Ohne Gegensteuern kann sich der Fachkräftemangel von einer gravierenden Herausforderung zu einem regelrechten Wachstumshemmnis auswachsen“, warnt sie. „Es sind dicke Bretter zu bohren, von der Genesung der Wirtschaft nach der Corona-krise über die Bewältigung des digitalen Strukturwandels und beschleunigten Umbaus zur Klimaneutralität bis hin zum Abbau der stark gewachsenen Staatsschulden.“Dazu kämen erheblich steigende Finanzierungslasten in Sozialversicherungen sowie die nötigen Investitionen in mehr Krisenfestigkeit.
Hinzu kommen in Deutschland wie in den USA ganz praktische Gründe: Solange die Schulen nicht regulär geöffnet waren, hatten viele Eltern ein Betreuungsproblem. Manche Menschen mit Vorerkrankungen fühlen sich an einem Arbeitsplatz mit viel Publikumsverkehr immer noch nicht wohl. Und angesichts der starken Nachfrage können Job-suchende auch etwas wählerischer sein.
Ein Handicap der Gastronomieund Tourismusbranche ist in den USA noch härter als in Deutschland: der Wegfall der meisten Arbeitskräfte aus dem Ausland. Durch die einwanderungsfeindlichen Trumprestriktionen und aufgrund der Corona-bestimmungen war die Zahl der Arbeitsvisa schon im vorigen Jahr um die Hälfte auf 700000 eingebrochen. Die Erteilung sogenannter J-visa für Au-pair-mädchen und -Jungen sowie Austausch-studierende aus Asien, Großbritannien, Deutschland oder der Türkei kam zum Erliegen. Zwar dürfen diese Ferienjobber theoretisch nun wieder ins Land. Doch bei den Botschaften gibt es einen monatelangen Antragsstau. Außerdem müssten Europäer eine zweiwöchige Quarantäne durchlaufen.
Normalerweise kommen 500 der 1500 Saisonkräfte im Freizeitpark „Morey’s Piers“über das Summerwork-program des Us-außenministeriums aus Übersee: Die Studenten jobben bis zu 16 Wochen und
Auch in Deutschland stockt der Neustart
„Wilhelm’s Bier Garten“hat wieder geöffnet
können dann für vier Wochen das Land bereisen. Eine schöne Idee. Beckson schwärmt von den vielsprachigen Begegnungen und dem internationalen Austausch. Doch im Mai schafften es gerade einmal 15 Austausch-studenten nach Wildwood. Inzwischen sind es 85. Viel mehr werden es dieses Jahr kaum werden.
Trotzdem, da ist sich Beckson sicher, wird der Vergnügungspark das 52. Jahr seines Bestehens überleben. Auch „Wilhelm’s Bier Garten“hat inzwischen wieder bis spätabends geöffnet. Dort kann man wie Firmengründer Will Morey bei Hefeweizen, Bratwurst und „Pretzels“vom Münchner Oktoberfest träumen. Sorgen macht sich die Personalchefin hingegen um einige kleine Läden an der Strandpromenade Bordwalk, die mit der Pleite kämpfen: „Es gibt so viele Betriebe, die die Pandemie tapfer durchlitten haben. Wenn sie jetzt in der Erholungsphase dichtmachen müssten, weil sie kein Personal finden, wäre das wirklich bitter.“