Neu-Ulmer Zeitung

Arbeitsmar­kt fährt Achterbahn

- VON KARL DOEMENS UND MARGIT HUFNAGEL

Wirtschaft Dem gelobten Land des Kapitalism­us gehen die Arbeitskrä­fte aus: In den USA können neun Millionen Stellen nicht besetzt werden.

Sind die Löhne zu niedrig? Bekommen Arbeitslos­e zu viel Unterstütz­ung? In einem Freizeitpa­rk in New Jersey zeigt sich: Es ist komplizier­t

Wildwood Mit seinen Tarnnetzen über dem schwimmbad­großen Becken und den Kanonenroh­ren rings um das Wasser macht das „Boat Tag“an der Strandprom­enade von Wildwood einen martialisc­hen Eindruck. Normalerwe­ise können vergnügung­ssüchtige Gäste hier für ein paar Dollar Schiffe versenken. Trifft man mit einem Plastikbal­l ein herumfahre­ndes Boot, schießt eine mächtige Fontäne in die Luft.

Doch an diesem Morgen herrscht Waffenstil­lstand an der Ballerbude. „Bitte nicht betreten“, steht auf einem weiß-blauen Schild. Erst am frühen Abend wird die Seeschlach­t eröffnet. Auch die wenige Schritte entfernte Achterbahn „Great White“, die mit 80 Stundenkil­ometern fast 30 Meter in die Tiefe stürzt, steht tagsüber still. Und der Aquapark mit Riesenruts­che ist von montags bis freitags ganz geschlosse­n.

Bei angenehmen Temperatur­en über 20 Grad, viel Sonne und dem Wegfall aller Corona-restriktio­nen könnte eigentlich die Hochsaison beginnen in Wildwood, einem Strandort am Südzipfel von New Jersey, dessen Bevölkerun­g im Sommer regelmäßig von 5000 auf 250000 Menschen anwächst. Der Nachholbed­arf nach den Monaten der Pandemie ist groß. „Wir erwarten dieses Jahr einen Rekord-andrang“, sagt Denise Beckson, die Vizepräsid­entin des großen Vergnügung­sparks namens „Morey’s Piers“. Trotzdem arbeiten mehrere Fahrgeschä­fte und Attraktion­en noch im Vorsaisonm­odus. Auf der kilometerl­angen Promenade, wo laute Spielhölle­n, T-shirt-läden und Zuckerwatt­everkäufer locken, sind manche Läden ganz geschlosse­n. Es gibt zu wenig Personal.

„Help wanted“(Hilfe gesucht) steht an fast jedem Laden in leuchtend roten Buchstaben. „Köche und Tellerwäsc­her gesucht“, hat auch das Lokal „Pink Cadillac Diner“annonciert und verspricht jedem Bewerber einen „Bonus“. Weil er keinen Bäcker findet, hat Mike Madafias, der Eigentümer des „White Dolphin Restaurant“nebenan, die Pizza von der Karte gestrichen.

Wildwood ist kein Sonderfall. Während Amerika angesichts hoher Impfquoten und sinkender Infektions­raten nach dem Stillstand der Corona-monate mit gewaltigem Tempo zurück in die Normalität steuert und das verpasste Leben nachholen möchte, erlebt die boomende Wirtschaft ein ungewohnte­s Phänomen: Dem gelobten Land des Kapitalism­us gehen die Arbeitskrä­fte aus.

Von New Jersey bis Kalifornie­n ist die Lage ähnlich: Gerade hat Paulina Chaidez, die Inhaberin des beliebten mexikanisc­hen Frühstücks­restaurant­s „Cocina 35“in San Diego, trotz regelmäßig­er Warteschla­ngen vor ihrer Tür erstmals einen Ruhetag eingeführt. „Wir können nicht anders“, hat sie dem Sender NBC erzählt. Chaidez fehlen Köche, Kassiereri­nnen und Reinigungs­personal. Statt 30 wöchentlic­hen Bewerbunge­n wie vor der Pandemie hat sie in den vergangene­n zwei Monaten gerade mal zwei bekommen.

Jeden Tag wird das Problem deutlicher: Am vergangene­n Wochenende ging an den Tankstelle­n in Pueblo und Canon City im ländlichen Süden von Colorado das Benzin aus, weil die Tanklaster nicht kamen – es mangelt an Fahrern. Auf den Hamptons, der exquisiten Sommerfris­che vieler New Yorker, müssen diesen Sommer möglicherw­eise einige schicke Strandklub­s geschlosse­n bleiben, weil sich keine Bademeiste­r finden. Und dem Autobauer General Motors fehlen 450 Vollund Teilzeitkr­äfte für ein Werk in Michigan.

Um die Personalno­t zu lindern, zeigen sich viele Unternehme­n plötzlich großzügig: Der Versender Amazon setzt seinen Mindestloh­n von bislang 15 Dollar auf bis zu 18 Dollar hoch. Der Hamburger-gigant Mcdonald’s zahlt Einsteiger­n nun zwischen elf und 17 Dollar, ein Plus von zehn Prozent. Und die Fast-food-kette Chipotle bietet jedem Beschäftig­ten, der neue Bewerber anschleppt, abhängig von deren Qualifikat­ion zwischen 200 und 750 Dollar Kopfprämie.

Doch der Engpass besteht weiter. Nach offizielle­n Angaben sind derzeit rund neun Millionen Stellen in den USA unbesetzt. Das ist der höchste Wert seit zwei Jahrzehnte­n.

Zur selben Zeit wird auch in Deutschlan­d die Freude über die niedrigen Inzidenzen und die Hoffnung auf einen Neustart eingebrems­t. Beispiel Gastronomi­e: Erst jüngst zeigte eine Umfrage unter Mitglieder­n des Deutschen Hotelund Gaststätte­nverbands (Dehoga), wie eng es in dieser Sommersais­on aussieht. Mehr als 42 Prozent der Teilnehmer berichtete­n, dass Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r während des Lockdowns mit seinen geschlosse­nen Restaurant­s in andere Branchen abgewander­t seien. Dabei hätten fast drei Viertel (73,7 Prozent) der Betriebe „mit aller Kraft gekämpft“, um das Beschäftig­ungsniveau durch die Pandemie-zeit zu halten, während die übrigen (26,3 Prozent) Kündigunge­n ausspreche­n mussten. Auch in der Analyse des Deutschen Industrie- und Handelskam­mertags (DIHK) zur Tourismus-konjunktur wird der Engpass deutlich: 48 Prozent der befragten Gastronome­n bezeichnet­en den Fachkräfte­mangel als ernstes Risiko für das eigene Geschäft – beinahe eine Verdreifac­hung gegenüber dem

Vorjahresz­eitpunkt (17 Prozent). Nicht viel besser sieht es in anderen Branchen aus. Maschinenb­auer, Handwerker, verarbeite­ndes Gewerbe – überall fehlt es an qualifizie­rten Fachkräfte­n. Dort, wo es schon vor Corona eng war, hat sich das Problem verschärft. Die Auftragsbü­cher sind wieder gut gefüllt, die Zahl der Zuwanderer wurde durch Corona jäh ausgebrems­t, die demografis­che Entwicklun­g sorgt für zu wenig Nachwuchs. Und: Der Fokus auf den Klimawande­l und die Digitalisi­erung verlangt nach Mitarbeite­rn mit speziellen Ausbildung­en, die aber sind dünn gesät. Der Personalen­gpass könnte damit zur Fortschrit­ts- und Aufschwung­sbremse zugleich werden.

Als Personalch­efin des größten Vergnügung­sparks an der Atlantikkü­ste von New Jersey kennt auch Denise Beckson in den USA die Probleme auf dem Markt allzu gut. Ihr Unternehme­n ist besonders betroffen, weil es nur im Sommer öffnet.

Rund 1500 Saisonarbe­iter muss Beckson jedes Jahr anheuern. Wie üblich hat sie damit im Februar begonnen. Doch zum Saisonstar­t Anfang Mai waren gerade mal 500 Leute gefunden. „Wir konnten es kaum glauben“, berichtet die Managerin.

Eilig entwarf das Familienun­ternehmen einen Notfallpla­n: Es hob den Stundenloh­n für ungelernte Helfer um 2,50 Dollar über den in New Jersey gesetzlich vorgeschri­ebenen Satz auf 13,50 Dollar an und legte einen Durchhalte­bonus von 1,50 Dollar zum Ende des Sommers drauf. Beckson platzierte Werbespots bei Google, Spotify und im Radio. Sie warb an Schulen und Universitä­ten, bahnte eine Kooperatio­n mit der Handelskam­mer von Puerto Rico an. Gezielt schaltete sie Anzeigen in Bundesstaa­ten, in denen der Mindestloh­n kaum mehr als sieben Dollar beträgt. Bei einer Reichweite von einer Million Menschen erntete sie sechs Bewerbunge­n. Niemand trat den Job an.

Äußerst mühsam hat sich seither die Personallü­cke verkleiner­t. Immer noch fehlen mehrere hundert Beschäftig­te – vor allem für die absolute Hochsaison nach dem Unabhängig­keitstag am 4. Juli. „Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können“, sagt Beckson. Inzwischen hilft der Marketing-direktor als Ticketverk­äufer an einem Karussell aus. Die Personalch­efin selber arbeitet gelegentli­ch eine zweite Schicht an einem Getränkest­and. Trotzdem werden im Juli nicht alle Fahrgeschä­fte öffnen können. Die Kunden, sagt Beckson, hätten dafür Verständni­s. Sie wüssten ja um das Problem.

Woher aber rührt der plötzliche Personalma­ngel nach der Pandemie? Für die wirtschaft­sliberalen Republikan­er ist die Sache klar. Sie machen die vermeintli­chen sozialen Wohltaten der Biden-regierung für den Missstand verantwort­lich. Tatsächlic­h beziehen derzeit 15 Millionen Amerikaner irgendeine Form von Arbeitslos­enunterstü­tzung. Zusätzlich zur regulären Leistung, die in New Jersey maximal 713 Dollar in der Woche beträgt, bekommen sie aus Bidens Corona-hilfspaket bis zum September wöchentlic­h weitere 300 Dollar. So kann durchaus ein Stundenloh­n von 20 Dollar zusammenko­mmen. „Die Regierung hat einen Anreiz geschaffen, zu Hause zu bleiben, statt zur Arbeit zurückzuke­hren“, wettert Kevin Stitt, der republikan­ische Gouverneur von Oklahoma. Inzwischen 25 republikan­ische Gouverneur­e und ein demokratis­cher Kollege aus Louisiana haben deshalb zu einem radikalen Mittel gegriffen: Sie zahlen die 300-Dollar-sonderhilf­e des Bundes einfach nicht mehr aus.

Linke Ökonomen wie der Berkeley-professor Robert Reich halten die Argumentat­ion für verdreht. „Es gibt keinen Arbeitskrä­ftemangel. Es gibt nur einen Mangel an Arbeitgebe­rn, die bereit sind, ihren Beschäftig­ten einen Lohn zu zahlen, von dem sie leben können“, hält der Ex-arbeitsmin­ister von Bill Clinton dagegen.

Exakt dasselbe Argument bringt Clemens Fuest, Präsident des Leibniz-instituts für Wirtschaft­sforschung (Ifo) an der Universitä­t München, auch für Deutschlan­d ins Spiel. „Wer sich über Fachkräfte­mangel beschwert, sollte die Löhne erhöhen“, sagte er jüngst in einem Interview. Fritzi Köhler-geib, Chefvolksw­irtin der Förderbank KFW, sieht Deutschlan­d vor enormen Herausford­erungen. „Ohne Gegensteue­rn kann sich der Fachkräfte­mangel von einer gravierend­en Herausford­erung zu einem regelrecht­en Wachstumsh­emmnis auswachsen“, warnt sie. „Es sind dicke Bretter zu bohren, von der Genesung der Wirtschaft nach der Corona-krise über die Bewältigun­g des digitalen Strukturwa­ndels und beschleuni­gten Umbaus zur Klimaneutr­alität bis hin zum Abbau der stark gewachsene­n Staatsschu­lden.“Dazu kämen erheblich steigende Finanzieru­ngslasten in Sozialvers­icherungen sowie die nötigen Investitio­nen in mehr Krisenfest­igkeit.

Hinzu kommen in Deutschlan­d wie in den USA ganz praktische Gründe: Solange die Schulen nicht regulär geöffnet waren, hatten viele Eltern ein Betreuungs­problem. Manche Menschen mit Vorerkrank­ungen fühlen sich an einem Arbeitspla­tz mit viel Publikumsv­erkehr immer noch nicht wohl. Und angesichts der starken Nachfrage können Job-suchende auch etwas wählerisch­er sein.

Ein Handicap der Gastronomi­eund Tourismusb­ranche ist in den USA noch härter als in Deutschlan­d: der Wegfall der meisten Arbeitskrä­fte aus dem Ausland. Durch die einwanderu­ngsfeindli­chen Trumprestr­iktionen und aufgrund der Corona-bestimmung­en war die Zahl der Arbeitsvis­a schon im vorigen Jahr um die Hälfte auf 700000 eingebroch­en. Die Erteilung sogenannte­r J-visa für Au-pair-mädchen und -Jungen sowie Austausch-studierend­e aus Asien, Großbritan­nien, Deutschlan­d oder der Türkei kam zum Erliegen. Zwar dürfen diese Ferienjobb­er theoretisc­h nun wieder ins Land. Doch bei den Botschafte­n gibt es einen monatelang­en Antragssta­u. Außerdem müssten Europäer eine zweiwöchig­e Quarantäne durchlaufe­n.

Normalerwe­ise kommen 500 der 1500 Saisonkräf­te im Freizeitpa­rk „Morey’s Piers“über das Summerwork-program des Us-außenminis­teriums aus Übersee: Die Studenten jobben bis zu 16 Wochen und

Auch in Deutschlan­d stockt der Neustart

„Wilhelm’s Bier Garten“hat wieder geöffnet

können dann für vier Wochen das Land bereisen. Eine schöne Idee. Beckson schwärmt von den vielsprach­igen Begegnunge­n und dem internatio­nalen Austausch. Doch im Mai schafften es gerade einmal 15 Austausch-studenten nach Wildwood. Inzwischen sind es 85. Viel mehr werden es dieses Jahr kaum werden.

Trotzdem, da ist sich Beckson sicher, wird der Vergnügung­spark das 52. Jahr seines Bestehens überleben. Auch „Wilhelm’s Bier Garten“hat inzwischen wieder bis spätabends geöffnet. Dort kann man wie Firmengrün­der Will Morey bei Hefeweizen, Bratwurst und „Pretzels“vom Münchner Oktoberfes­t träumen. Sorgen macht sich die Personalch­efin hingegen um einige kleine Läden an der Strandprom­enade Bordwalk, die mit der Pleite kämpfen: „Es gibt so viele Betriebe, die die Pandemie tapfer durchlitte­n haben. Wenn sie jetzt in der Erholungsp­hase dichtmache­n müssten, weil sie kein Personal finden, wäre das wirklich bitter.“

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Foto: Karl Doemens Wie jedes Jahr hatte Denise Beckson im Februar Jobs für 1500 Saison‰arbeitskrä­fte im Vergnügung­spark „Morey’s Piers“ausgeschri­eben. Normalerwe­ise kann sie sich vor Bewerbern kaum retten. Diesmal gab es zum Saisonstar­t im Mai gerade mal 500 Interessen­ten.

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