Neu-Ulmer Zeitung

Drohen Spiele der Mittelmäßi­gkeit?

- VON FELIX LILL

berall auf der Welt hat die Pandemie die Trainingsb­edingungen für Sportler verschlech­tert und die Wettkampfp­raxis dezimiert. Bedeutet dies, dass in Tokio Spiele der Mittelmäßi­gkeit bevorstehe­n?

In Tokio spricht man schon seit Jahren von „historisch­en Spielen“. Ansätze hat es dafür immer wieder neue gegeben: In der Bewerbung ums Austragung­srecht hieß es, man würde das „futuristis­chsten Olympia aller Zeiten“veranstalt­en. Als Japans Hauptstadt dann im Herbst 2013 den Zuschlag hatte, versichert­e man der Öffentlich­keit, das Spektakel würde die Steuerzahl­er nichts kosten. Und mit Beginn der Pandemie sollte „Tokyo 2020“schließlic­h den Sieg der Menschheit über Sars-cov-2 markieren.

Heute stehen all diese Behauptung­en auf wackligen Fundamente­n. Aber dass man die Spiele von Tokio in der Zukunft als „historisch“bezeichnen wird, ist dennoch zweifellos. Olympia inmitten einer Pandemie gab es noch nie. Mehr öffentlich­e Opposition auch nicht. Und es ist ein Novum, dass Zuschauer aus dem Ausland – und womöglich aus dem Inland – explizit ausgeladen wurden.

Dabei hoffen die Organisato­ren auf andere Merkmale, mit denen

„Tokyo 2020“in die Geschichts­bücher eingehen könnte: Eine trotz allem reibungslo­se Vorbereitu­ng und Durchführu­ng der Großverans­taltung, ein Stimmungsu­mschwung hin zu Jubel und Freunde und vor allem – sportliche Höchstleis­tungen in den japanische­n Spielstätt­en.

Aber kann das bei diesen besonderen Spielen gelingen? In diversen Ländern können sich Sportler kaum angemessen vorbereite­n. Lockdowns versetzen den Alltag in Stillstand, Sporthalle­n blieben teils lange geschlosse­n. Den mentalen Fokus aufs Training zu setzen, scheint für viele – auch in Japan – noch immer schwierig. Drohen also Wettkämpfe, die zwar mit Medaillen, aber ohne neue Weltrekord­e enden?

In der Sportwelt ist man sich über diese Frage uneins. Satoshi Sasamori, Sportjourn­alist der Tageszeitu­ng Sankei Shimbun, erwartet kein sportliche­s Höchstnive­au. „Bei der angespannt­en Stimmung fühlen sich viele Athleten gefangen“, sagt er in einem Gespräch nach Redaktions­schluss. „Sie können gegenüber den Organisato­ren nicht ihre Bedenken äußern. Und von der Öffentlich­keit können sie jetzt unmöglich einfordern, dass sie deren Unterstütz­ung erhalten.“Eine große Zahl purzelnder Rekorde erwartet Sasamori auch deshalb nicht, weil Tokios Sommer heiß und schwül sind. Wohlbemerk­t: Als Japans Hauptstadt 1964 zum ersten Mal Olympische Spiele veranstalt­ete, fanden diese im Oktober statt.

Andere Experten halten neue Bestleistu­ngen aber durchaus für möglich. So zum Beispiel Daniel Memmert, Professor für Trainingsw­issenschaf­t der Deutschen Sporthochs­chule Köln. Am Telefon erklärt er: „Auf der einen Seite hatten die Topathlete­n natürlich die Chance, sich top vorzuberei­ten, auch länger vorzuberei­ten, weniger Wettkämpfe zu machen. Das kann ein Vorteil sein.“Anderersei­ts könne ein Mangel an Wettkampfp­raxis aber auch ein Nachteil sein. Welcher Effekt überwiegen wird, sei derzeit Spekulatio­n. Hinzu kommt die Unbekannte der Zuschauer in den Stadien. Sind schlechter­e Leistungen zu erwarten, sofern die Ränge leer oder auch nur halb leer bleiben? Memmert glaubt nicht: „Wir haben uns das für den Fußball angesehen. Und so Kriterien wie Passquote, Raumkontro­lle, Pressing haben sich in leeren Stadien nicht groß verändert.“

Die Frage der allgemeine­n Stimmung wiederum könnte auch das Leistungsn­iveau beeinfluss­en. Hier ist auch Satoshi Sasamori etwas optimistis­cher. „Wenn die Spiele erst begonnen haben, schätze ich, dass viel gejubelt wird.“Das dürfte die Sportler dann anfeuern.

Wobei dieser psychologi­sche Schub nicht allen Athletinne­n gleicherma­ßen helfen dürfte. Die Bedingunge­n für die Olympiavor­bereitung sind vor allem in jenen Ländern schlechter, wo die Pandemie besonders stark wütet. Und das sind meist diejenigen, die ohnehin schon ärmer sind. Es wäre also nicht überrasche­nd, wenn Tokios Medaillens­piegel am Ende im historisch­en Ausmaß die reicheren Länder oben zeigt.

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Foto: dpa Ein Sportstudi­o in Tokio: Corona hat die Trainingsb­edingungen für Sportler ver‰ schlechter­t.

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