Ihren Pass, bitte!
Frankreich Nächste Woche startet die Tour de France, das härteste Radrennen der Welt. Auch Freizeitsportler wollen die
legendären Etappenziele bewältigen. Schmerz, lass nach! Warum sich Radler im Urlaub diese Tortur antun
Qual und Genuss liegen beim Rennradfahren manchmal eng beieinander. So wie hier im Vercors, einem Nebenstraßen-paradies in den französischen Voralpen. Noch am Vormittag rollt das Rad fast wie von allein durch die wildromantische Landschaft nahe der Gemeinde Die, einem 4000-Seelen-ort am Rande der Provence.
Knapp über 20 Grad Celsius, nahezu windstill, Steigung um die acht Prozent, keine Autos und auch keine Motorräder, die durchs Tal röhren – als wäre das Sträßchen für den Tour de France-tross gesperrt. Nur das sanfte Surren der frisch geölten Fahrradkette und das friedliche Plätschern des Gebirgsbachs, in dessen glasklares Wasser man am liebsten hüpfen würde. Dafür ist es zu früh, sind doch noch 125 Kilometer und knapp 2600 Höhenmeter zu meistern – für einen Hobbysportler ein ordentliches Tagespensum, auch wenn es bei einer Bergetappe der Tour de France schon mal über 4000 Höhenmeter sind.
Der knapp 20 Kilometer lange Anstieg zum Col de Pennes ist gerade recht zum Warmwerden, die anschließende Abfahrt auf einsamer Straße ins Drôme-tal wird zum rasanten Vergnügen. Wenig später Einkehr mit Café au lait im Schatten des Kastanienbaums auf dem winzigen Dorfplatz von Chatillon-endiois, das von Weinbergen und hohen Felsen überragt wird.
Und weil anders als bei den Tour de France-assen unterwegs kein Edelhelfer ständig neue volle Trinkflaschen reicht, noch schnell Wasser am Dorfbrunnen nachfüllen für die Fahrt auf den 1402 Meter hohen Col du Menée. Wie schon zum Col de Pennes wieder rund 700 Höhenmeter. Doch plötzlich ist alles ganz anders: Brütende Nachmittagshitze, kaum schattige Passagen, dazu die Pässe vom Vortag in den Beinen – die sanfte Steigung in den Voralpen fühlt sich auf einmal wie eine richtig steile Rampe im Hochgebirge mit dünner Luft an. Die Reifen scheinen am heißen Asphalt kleben zu bleiben. Alles brennt, die Beine, der Hintern und auch die Augen, in die der Schweiß von der Stirn stetig rinnt. Ein Einbruch ohne Vorwarnung, wie man ihn schon als Fernsehzuschauer bei so manchem Tour-favoriten miterlebt hat.
Hier und jetzt ist das Leiden real. Es hält zähe 15 Kilometer an, ehe schließlich das Passschild und mit ihm ein Tunnel auftauchen. Und am Ende des Tunnels ist bekanntlich immer Licht. In diesem Fall lässt es den weißen Transporter von Heinz als Zeichen der Hoffnung hell leuchten. Wie immer hat Heinz schon seinen Klapptisch aufgebaut. Darauf findet man alles, was ausgezehrten Radlern wieder Kraft gibt: Bananen, Tomaten, Nüsse, Baguette, Käse, Salami, Schokoriegel, Cola und Wasser – sogar Essiggurken und vegane Kekse sind dabei. Heinz erfüllt auch Sonderwünsche.
Die schwäbische Frohnatur ist der gute Geist von „Quäl dich Reisen“, ein Anbieter, der für seine Rennradtrips mit dem Slogan wirbt: „Hauptsache bergauf“. Heinz kümmert sich nicht nur um den Kaloriennachschub für unterwegs, der Rentner transportiert auf der siebentägigen Rundfahrt mit Start und Ziel in Chambéry auch das Gepäck. Am Ende werden es immerhin gut 700 Kilometer sein. Und doch ein kleiner Kringel im Vergleich zu den 3484 Kilometern der „Grande Boucle“, die große Schleife, wie die Franzosen ihre Tour de France liebevoll nennen.
Nach und nach trudeln auf dem Col du Menée all die tapferen Hobby-radler ein, die sich vom Namen des Reiseveranstalters nicht haben abschrecken lassen. Es ist ein buntes Völkchen: Da ist zum Beispiel Sebastian: 35 Jahre alt, Bundeswehr
Rennrad-einsteiger mit großem Kämpferherz, der mittels Radcomputer am Lenker permanent seine Leistungswerte überwacht – was ihn aber am zweiten Tag auch nicht vor einem bösen Einbruch bewahrt. Edi vertraut mit seinen 74 Jahren und hunderttausenden von Kilometern in den Beinen allein seiner enormen Erfahrung auf dem „Velo“. Der drahtige Pensionär aus der Schweiz muss nach eigenen Worten „niemandem mehr etwas beweisen“. Andere – jüngere – gehen schon mal an ihre Grenzen, um als Erste oben auf dem Berg zu sein.
Letzteres bleibt den Leichtgewichten im 19-köpfigen Feld vorbehalten, das in drei Leistungsklassen
ist. Am lockersten nimmt es die Cappuccino-gruppe, in der das eine oder andere Teammitglied ein Radtrikot Größe XL ausfüllt. So wie Michael. Der It-experte eines Pharmakonzerns konnte sich meist nur auf der Rolle nach Feierabend im Hobbykeller auf die Tour de France-klassiker wie Col du Galibier und Alpe d’huez vorbereiten. Gleich am ersten Tag, als der „Quäl dich“-tross zuerst mehrere Pässe der Chartreuse erklimmt und später durch eine Hochfläche mit saftig grünen Wiesen rollt, plagen Michael schlimme Krämpfe. „Wahrscheinlich zu wenig Elektrolyte im Getränk“, lautet Michaels Selbstdiagnose am Etappen-ort Villards-desoldat,
Lans, das er mit eisernem Willen doch noch erreicht. Die übliche Dosis reichte für die Trainingsfahrten vor virtueller Kulisse auf dem Tvbildschirm, aber eben nicht für den echten Ritt über die französischen Berge. Also die doppelte Ration Mineralien rein in die Trinkflasche – und tatsächlich, Michael wird fortan nach jeder Zielankunft sein „Schmutzbier“ganz ohne Wadenkrämpfe genießen können.
„Schmutzbier“– so nennt Luc, einer der drei umsichtigen Guides, das erste Kaltgetränk, das man sich sofort nach Erreichen des Zielorts im verschwitzten Radtrikot gönnt. Beim „Schmutzbier“lässt man den Tag Revue passieren und gerät daaufgeteilt bei kollektiv ins Schwärmen. Zum Beispiel über die Fahrt durch die Gorges de la Bourne. Die Felswände rücken bei der wilden Fahrt durch die schattige Klamm näher und näher. An vielen Stellen war den Straßenbauern nichts anderes übrig geblieben, als die Trasse in den Fels zu sprengen, um den Weg Richtung Pont-en-royans frei zu machen.
Oder die Combe Laval – eine Traumstraße auf dem Weg zum Col de la Machine mit Felsdurchbrüchen und ausgesetzten Passagen, an denen nur ein kniehohes Mäuerchen die Fahrbahn von den schwindelerregenden Abgründen trennt. Hier steigen selbst echte Kilometerfresser vom Rad, um für einen Moment innezuhalten und zu staunen.
Dazu die Abfahrten – manche 15 oder 20 Kilometer lang, wie jene vom Col de Rousset, herrlich terrassiert, lange Haarnadeln. Das Gefälle ist gering, weshalb nur vor jeder der acht 180-Grad-kurven ernsthaft gebremst werden muss.
Asphaltblasen und Dünen. In diese Kategorien teilt der zweite Michael im „Quäl dich“-feld Bergpässe ein. Ein waschechter Ostfriese, der bei seinen zahllosen Rennradtouren in den norddeutschen Ebenen ganz oft von den Bergen träumt. An Tag vier steht den „Quäl
Der Kräfteeinbruch kommt ohne Vorwarnung
Autofahrer wünschen an der Alpe D’huez „Viel Glück!“
dich“-fahrern die erste „richtig hohe Düne“(Michael) im Weg: die legendäre Auffahrt zum Wintersportort Alpe d’huez mit Bergankunft auf 1815 Metern. 1100 Höhenmeter auf knapp 14 Kilometer verteilt. 21 Kehren, in denen sich schon zahllose Tour de France-dramen abgespielt haben. Heute stehen keine Menschenmassen Spalier, rennen keine irren Fans hinter den Michaels, Volkers oder Eddis her. Gelegentlich brüllen Beifahrer aus heruntergelassenen Fenstern „Bonne courage!“– als Anfeuerung. An manchen Tagen kämpfen sich mehrere hundert Radfahrer nach Alpe d‘huez hoch.
Wer die Einsamkeit sucht, findet sie nur wenige Kilometer östlich von Alpe d’huez auf der schmalen Straße zum Col de Sarenne – ein Kleinod, das am nächsten Morgen bei klarer Sicht imposante Ausblicke auf den Gipfel der 3983 Meter hohen Meije und die strahlend weißen Gletscherfelder darunter bietet.
Die Abfahrt verlangt zwar wegen vieler kleiner Steinchen in den Kurven höchste Konzentration, ist aber landschaftlich vom allerfeinsten. Sie endet im Romanche-tal, wo der Anstieg zum Col du Lautaret beginnt, die Ouvertüre für das eigentliche Highlight des Tages. Der Lautaret ist der Vorpass zum Col du Galibier – flach, aber mit knapp 35 Kilometern Anstieg aus westlicher Richtung kommend zermürbend lang.
2642 Meter hoch und schon viele Male das Dach der Tour de France – der Col du Galibier ist wie Alpe d’huez ein Radsport-mythos, dem man mit Respekt begegnet, den man aber auch nach den ersten Kilometern wieder ablegt. Weil der Anstieg weniger hart als gedacht ist und weil zudem die grandiose Kulisse mit all den Bergriesen ungeahnte Kräfte freisetzt. Erst im oberen Teil, wo die Vegetation und die Luft immer dünner werden, steigt der Quäl-dichfaktor. Der weicht auf der Passhöhe sofort einer Mischung aus Stolz und Freude, es allein mit Muskelkraft ganz nach oben geschafft zu haben.
Die Szenerie mit dem Montblancmassiv im Hintergrund erinnert an ein Familientreffen. Menschen fallen sich lachend in die Arme, stellen sich für Erinnerungsfotos vor das Passschild. Manche recken dabei ihr Rad in die Höhe. Ein Ort, an dem Autos deplatziert wirken und nur im Schritttempo einen Weg durch die Trauben glücklicher Radsportler finden. Wer meint, Quälen und Genuss würden nicht zusammen passen, kann sich hier auf 2642 Metern Höhe vom Gegenteil überzeugen.