Die unbeliebtesten Spiele aller Zeiten
Sport Dabeisein ist alles? Nicht für die Menschen in Japan. In einem Monat beginnen dort die Olympischen Sommerspiele. Aber die Japaner
wollen das Spektakel nicht in ihrem Land. Wer sich dafür ausspricht, riskiert Anfeindungen. Doch einen euphorischen Fan gibt es
Tokio Wenn das große Ereignis beginnt, das ein Fest für alle werden soll, muss Yuhei Hosono auf vieles verzichten. Der 44-Jährige aus Tokio gehört zwar nicht zu den Athleten, musste durch keine Qualifikationswettkämpfe und langen Trainingslager. „Ich werde als Volunteer arbeiten“, sagt er mit Stolz im Gesicht. Als freiwilliger Helfer. Durch die Kamera des Videochats deutet er auf die hellblaue Uniform, die er extra für dieses Gespräch angezogen hat: „Tokyo 2020“steht da in weißen Lettern auf seiner Brust. „Wir Volunteers sorgen während der Spiele für einen geregelten Ablauf“, erklärt Hosono und lächelt.
Noch ein Monat bleibt, bis am Abend des 23. Juli die Spiele von Tokio starten sollen. 11 000 Sportlerinnen und Sportler werden dafür ins Land reisen, tausende Trainer, Betreuer und Journalistinnen aus allen möglichen Ländern. Rund 100000 Freiwillige werden an den Eingängen von Stadien, den Ausgängen von Bahnstationen und in den Pressezentren den Weg weisen und Fragen beantworten. Ohne die Volunteers, betonen die Veranstalter bei Eröffnungs- und Abschlussfeiern jedes Mal, wäre die größte Sportveranstaltung der Welt niemals zu stemmen. „Mein Job wird die Betreuung der internationalen VIPS sein. Ich bin schon gespannt, mit wem wir es zu tun haben werden“, sagt Hosono. Ganz nah dran an den Stars.
Wird der Sportfan Thomas Bach herumführen, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC)? Oder Leichtathletiklegende Dick Fosbury, der 1968 in Mexiko mit seinem „Fosburyflop“den Hochsprung revolutionierte und seitdem als Teil der „olympischen Familie“immer zu den Spielen kommt? Für Hosono wird jedenfalls ein Traum in Erfüllung gehen. Um Persönlichkeiten aus der Sportwelt kennenzulernen, hat der Besitzer eines Juweliergeschäfts mehrere Schulungen durchlaufen. Alles neben seinem Beruf.
Aber das eigentliche Opfer, das der freiwillige Helfer bringen muss, ist sein Privatleben. Wenn er bei Olympia mitmache, erwarte seine Frau, dass er Abstand zu ihr hält. Berührungen, Umarmungen oder gar Küsse wird es während der Spiele für ihn nicht geben. „Sie hat Angst, dass ich das Virus mit nach Hause schleppe.“Nach einem Moment Schweigen fügt er hinzu: „Sie ist dagegen, dass die Olympischen Spiele diesen Sommer in Tokio stattfinden.“Und sie sei dagegen, dass sich ihr Ehemann dafür engagiere. „Ich hoffe, nach den Spielen vertragen wir uns wieder.“Im Hause Hosono, im Zentrum von Tokio, strapazieren die Olympischen Spiele eine Ehe. Und im ostasiatischen Japan eine ganze Nation.
Für zweieinhalb Wochen wird Tokio, die größte Metropole dieses Planeten, zum Zentrum der Weltöffentlichkeit. Dabei lässt sich nicht behaupten, die japanische Hauptstadt sei „Feuer und Flamme“. Es dürften die unbeliebtesten Spiele werden, die es je gegeben hat.
Umfragen haben über das vergangene Jahr immer wieder gezeigt, dass an die 80 Prozent im Land dagegen sind, das Spektakel diesen Sommer inmitten der Pandemie abzuhalten. Immer wieder wird in Teilen Tokios protestiert: mal vorm Hauptgebäude des japanischen olympischen Komitees im Stadtteil Shinjuku, dann vor der Station Shimbashi, dem ältesten Bahnhof der Stadt. Da sieht man dann Transparente mit Aufschriften wie dieser: „Keine Impfstoffe, Steuergelder oder Ressourcen des Gesundheitssystems für Olympia!“
Diese Woche haben die Organisatoren verkündet, trotz Corona bis zu 10000 einheimische Zuschauer bei allen Wettkämpfen der Sommerspiele zuzulassen, sollte die Coronalage stabil bleiben. Ausländischen Besuchern bleibt die Einreise verwehrt. Schwer vorstellbar, dass die Japaner euphorisch in die Stadien stürmen – zumal Japans wichtigster Corona-regierungsberater, der Mediziner Shigeru Omi, weiter für Geisterspiele ohne Fans plädiert.
Er verstehe all die Kritik, sagt Yuhei Hosono im Videochat. Allein dass man sich zuletzt aus Vorsicht vor Infektionen nur noch digital zu Gesprächen verabrede, scheine ja den Olympia-skeptikern recht zu geben. „Aber ich glaube, dass wir es
können, sichere Spiele zu veranstalten.“Rund 80 Prozent der Athleten sollen bis Olympia geimpft sein. Ähnliches gilt für die Helfer. „Das Organisationskomitee sagt immer, die Sicherheit hat oberste Priorität“, meint Hosono. „Das glaube ich ihnen auch.“Viele glauben es nicht. Als die Olympia-veranstalter im März 2020 die Verschiebung von „Tokyo 2020“auf den Sommer 2021 verkündeten, hielt die Mehrheit der Menschen in Japan diesen Schritt für verspätet. Bis dahin hatte die Regierung die Gefahren durch das Virus auf die leichte Schulter genommen. Um die Spiele zu schützen, so lautet ein Vorwurf gegen den damals regierenden Premierminister Shinzo Abe, habe man die öffentliche Gesundheit hintangestellt – in der kühnen Hoffnung, es werde schon nichts passieren. Priorität, so glauben viele in Japan auch jetzt, habe eben nicht die Gesundheit, sondern das Mega-event Olympia.
Bisher ist Japan im Vergleich zu anderen Ländern eher milde von Covid-19 betroffen. Auf eine Bevölkerung von 126 Millionen Menschen kommen an die 800 000 Infektionsund 15000 Todesfälle. Die vierte Infektionswelle scheint derzeit abzuklingen, letzte Woche wurden täglich noch rund 1500 Neuinfektionen gezählt.
Doch im Land mit einer schnell alternden Gesellschaft arbeiten die Krankenhäuser vielerorts seit Monaten an der Kapazitätsgrenze. Patienten, die nicht an Covid-19 erkrankt waren, mussten nach Hause geschickt werden. „Es besteht ein sehr hohes Risiko, dass ‚Tokyo 2020‘ zu einem Superspreaderevent wird“, sagt Haruka Sakamoto. Die Ärztin und Expertin für Gesundheitssysteme von der renommierten Keio-universität in Tokio erwartet im Sommer einen Kollaps des Tokioter Gesundheitssystems.
Ohnehin sind Juli und August die heißeste und schwülste Zeit des Jahres. Die durchschnittliche Luftfeuchtigkeit beträgt im Juli 77 Prozent, die Temperatur gut 29 Grad. „Da kommt es regelmäßig zu mehr Hitzeschlägen als sonst. Das belastet die Krankenhäuser.“Die Geschwindigkeit, mit der Sakamoto ihre Argumente gegen die Spiele darlegt, zeugt von Sorge. Und von Hintergrundwissen. „Wenn jetzt noch zehntausende Athleten und Offizielle ins Land kommen, wird der Druck umso größer.“Zudem sind bisher kaum zehn Prozent der japanischen Bevölkerung geimpft.
Auch sind die Sicherheitsvorkehrungen, die die Organisatoren erdacht haben, offenbar nicht ganz so sicher wie erhofft. Ein Athlet aus Uganda wurde bei der Einreise nach Japan positiv auf Covid-19 getestet. Auch wegen solcher Risiken fordern nicht nur politisch unabhängige Gesundheitsexperten wie Haruka Sakamoto die Absage der Spiele. Die Regierung, das IOC und die Olympia-sponsoren wollen die Kritiker eines Besseren belehren. „Die Spiele von Tokio werden den Sieg der Menschheit über die Pandemie erklären“, hat Premierminister Yoshischaffen hide Suga mehrmals gesagt. Dabei sieht sich der konservative Politiker womöglich auch gefangen: Die Bevölkerung will die Spiele zwar mehrheitlich nicht mehr. Laut Ausrichtervertrag aber kann nur das IOC die Spiele absagen. Und der internationale Sportdachverband definiert sich durch die Großveranstaltung. Ohne sie wäre seine einzige Einkommensquelle dahin.
Dann sind da noch die gut 60 japanischen Unternehmen, die den Tokioter Organisatoren einen Rekordwert von drei Milliarden Usdollar beschert haben. Für ihr Geld wollen sie das spektakuläre Event, damit sie lang geplante Werbekampagnen fahren können. Die Spiele würden für einen neuen Wirtschaftsboom sorgen, befeuert durch Rekordzahlen im Tourismus, hat die Regierung versprochen. Außerdem werde die Veranstaltung die Steuerzahler nichts kosten. Alles werde privat finanziert. Was von Anfang an eine kreative Rechnung war, hat sich mittlerweile als krachende Fehlkalkulation herausgestellt. Schon in der Bewerbung um das Austragungsrecht hatte das Tokioter Komitee die zu erwartenden Erträge aufgebläht und Kosten kleingerechnet. Seit der Verschiebung ist die Behauptung, für Olympia würden keine Steuergelder verwendet, verklungen. Von drei Milliarden Us-dollar Zusatzkosten wird nun ausgegangen. Und dies jenseits eines ohnehin schon vervielfachten Budgets.
Yuhei Hosono weiß all das, er will darüber auch nicht streiten. „Aber Olympische Spiele sind ein einmaliges Ereignis, das unsere Stadt und unser Land verändern kann. Wir werden dadurch offener, weltgewandter und moderner.“Bisher hat man sich in Japan vor allem für eine „homogene Gesellschaft“gehalten, in der sich alle mehr oder weniger ähnlich sind. Getragen wird diese Vorstellung nicht nur vom geringen Ausländeranteil mit kaum zwei Prozent sowie der strengen Immigrationspolitik. Auch das ständige Betonen von Normwerten spielt eine Rolle. In Japan gilt, dass japanische Haare schwarz sind und die Haut hell. Aber auch, dass man mit 22 Jahren die Uni abzuschließen hat und zur Arbeit einen Anzug trägt. „Tokyo 2020“soll Diversität feiern. „Unity in Diversity“lautet ein Motto: Einheit in Vielfalt. „Klingt das nicht toll?“, ruft Yuhei Hosono durch die Kamera. „So etwas brauchen wir hier dringend. Das Betonen von Vielfalt kann uns als Nation neue Kreativität und Kraft geben.“
Mit der Tennisspielerin Naomi Osaka, Tochter einer japanischen Mutter und eines haitianischen Vaters, sieht das bekannteste Postergirl dieser Spiele nicht wie die klassische Japanerin aus. Und Osaka ist nicht die einzige Medaillenhoffnung mit Migrationshintergrund. Da wäre der 22-jährige halbghanaische Sprinter Abdul Hakim Sani Brown. Oder Rui Hachimura, der erste Japaner in der Us-basketballliga NBA, dessen Vater aus Benin kommt und der Japan im Basketball anführen wird. Selbst im Nationalsport Judo zählt mit dem 26-jährigen Mashu Baker ein Halbamerikaner zu Japans Medaillenhoffnungen.
„Wäre es nicht ein wunderbares Signal für das Land, wenn diese Sportler für Japan Gold, Silber oder Bronze holen?“Es ist eine Frage, die Yuhei Hosono in diesem Gespräch stellt, sich in privaten Unterhaltungen aber verkneift. Das ganze Olympia-thema meidet er mittlerweile lieber. „Vielleicht bessert sich die Stimmung, wenn die Spiele erst begonnen haben“, sagt er. Wobei man offenbar nicht davon ausgeht, dass hier noch große Zustimmung oder gar Begeisterung entstehen wird. 10000 Freiwillige haben ihre Hilfsbereitschaft zurückgezogen.
Mit einem betretenen Lachen erzählt Yuhei Hosono von einer Diskussion, die die noch verbleibenden Helfer bewegt: „Das Organisationskomitee erwartet von den Freiwilligen, dass sie auf dem täglichen Weg zu ihrem Tätigkeitsort immer die Uniform tragen.“Die Sichtbarkeit der Offiziellen soll auf der Straße für Olympia-stimmung sorgen. „Aber einige von uns haben Angst, angefeindet zu werden, wenn sie die Uniform tragen. Sie haben jetzt um Erlaubnis gebeten, sie erst direkt am Arbeitsplatz anzuziehen.“
Eigentlich sei Tokio eine sichere Stadt, betont Yuhei Hosono. Aber in Zeiten wie diesen wisse man nie, was passieren kann.
Bisher trifft Corona Japan vergleichsweise milde 1000 Freiwillige wollen lieber doch nicht helfen