Neu-Ulmer Zeitung

So will Biontech die Medizin revolution­ieren

- VON MICHAEL POHL

Unternehme­n Kaum eine Firma profitiert mehr von der Pandemie als der Mainzer Konzern. Jetzt will der Impfstoff-hersteller

viele andere Krankheite­n mit seiner neuen Technologi­e therapiere­n. Wird Deutschlan­d wieder die Apotheke der Welt?

München Ein bisschen ist Biontechgr­ünder Ugur Sahin auf der Hauptversa­mmlung seines Unternehme­ns ein Triumphgef­ühl anzumerken. Allerdings nicht mit übertriebe­nem Selbstbewu­sstsein, sondern, ganz im Gegenteil, mit Nervosität: Jedes Mal, wenn er in seiner Rede einen Satz über den historisch­en Durchbruch der von den Mainzern entwickelt­en mrna-technologi­e und den ersten weltweit zugelassen­en Corona-impfstoff vorlesen will, droht er sich beinah zu verhaspeln.

„Das war die schnellste Entwicklun­g eines zugelassen­en Impfstoffs in der Geschichte der Medizin“, sagt er über den Biontech-impfstoff. Ebenso sei die Order der Europäisch­en Union über weitere 900 Millionen Impfdosen im kommenden Jahr „eine der größten Bestellung­en in der Geschichte der pharmazeut­ischen Produktion“, erklärt Sahin. „Wir haben mit der MRNA die Tür zu einer neuen Welt von Arzneimitt­eln geöffnet“, sagt der Forscher.

Tatsächlic­h war der Sieg im Wettrennen um den ersten Coronaimpf­stoff für Biontech ein Erfolg, dessen Bedeutung für das Unternehme­n – und vielleicht für die gesamte Pharmabran­che – noch gar nicht abzusehen ist. Sahin will nichts weniger, als mit der neuen Technologi­e große Teile der Medizin zu revolution­ieren. Bald sollen die genbasiert­en Wirkstoffe nicht nur Impfungen gegen Corona und andere Infektions­krankheite­n ermögliche­n, sondern auch die Behandlung von Krebs und anderen Krankheite­n grundlegen­d verändern.

Branchen-analysten halten es durchaus für möglich, dass Deutschlan­d mit der neuen Technologi­e wieder zur „Apotheke der Welt“werden könnte. Ende des 19. Jahrhunder­ts wurden hier Arzneimitt­el wie Aspirin erfunden und begründete­n den Ruf der deutschen

Pharmaindu­strie. In den vergangene­n Jahrzehnte­n schluckten aber ausländisc­he Konzerne aus den USA und der Schweiz zahlreiche Unternehme­n. Die Fertigung verlagerte sich in Billiglohn­länder.

Nach zahlreiche­n Fusionen, Übernahmen und Zerschlagu­ngen schwand die Bedeutung der deutschen Global Player. Heute ist Bayer nur noch auf Platz 15 der weltgrößte­n Pharmakonz­erne, Boehringer Ingelheim auf dem 17 Rang. Die auf über 500 Milliarden Euro geschätzte Branche beherrsche­n Namen wie Roche, Johnson & Johnson, Merck USA, Bristol Myers oder Pfizer. „Big Pharma“nennt man diese Riesen. Und das eher etwas verächtlic­h, angesichts der vielen umstritten­en Geschäftsp­raktiken, Preisdikta­te und Scheininno­vationen, die oft mehr der Gewinnmaxi­mierung als dem tatsächlic­hen medizinisc­hen Fortschrit­t zum Wohl der Patienten dienen.

Auch mrna-pioniere wie Biontech-chef Ugur Sahin oder Curevac-gründer Ingmar Hoerr sprechen oft von „Big Pharma“, um sich von den Multis abzugrenze­n. Die Erforscher der neuen Technologi­e nehmen es wohlwollen­d zur Kenntnis, wenn sie mit Apple oder Tesla verglichen werden. Jenen einstigen Start-ups, die ganze Branchen umgekrempe­lt haben. Genau dies wollen sie auch, selbst wenn sie bei der Impfstoffh­erstellung mit Größen wie Pfizer oder Bayer kooperiere­n.

„Wir gründeten Biontech 2008, um eine individual­isierte Krebsmediz­in zu etablieren, die auf den jeweiligen Patienten und die genetische­n Eigenschaf­ten seines Tumors passgenau zugeschnit­ten ist“, sagt Sahin. Das Ziel bleibt. Doch jetzt ist Biontech, anders als geplant, einer der größten Impfstoffh­ersteller der Welt. Allein das neue Marburger Werk wird kommendes Jahr eine Milliarde Dosen herstellen.

Bei der mrna-technologi­e handelt es sich um genbasiert­e Impfstoffe. Der Körper erhält digital am Computer entwickelt­es genetische­s Material als eine Art Bauplan für den Bau von Virusprote­inen in den menschlich­en Zellen. Die Hauptarbei­t erledigt dann das menschlich­e

Immunsyste­m. Es bildet Antikörper und Killerzell­en gegen das Virus.

Die mrna-pioniere wollen diese Art der Therapie auf zahlreiche andere Bereiche ausdehnen. „Bei 80 Prozent aller Krankheite­n ist das Immunsyste­m involviert“, sagt Sahin. Biontech wolle neue therapeuti­sche Dimensione­n erschließe­n. Er nennt Krebs, Allergien, Autoimmunu­nd Entzündung­serkrankun­gen. Das Unternehme­n mit seinen über 2000 Mitarbeite­rn forsche auch an Impfstoffe­n gegen HIV und Tuberkulos­e. Für einen Grippe-impfstoff sollen noch im Sommer die klinischen Studien beginnen.

Auch im Hauptfeld Krebsforsc­hung gibt es trotz der schnellen Entwicklun­g des Corona-impfstoffs Fortschrit­te. Bei Mitteln zur Therapie von Hautkrebs und Tumoren laufen bereits klinische Studien. Allerdings will der gelernte Krebsforsc­her keine falschen Hoffnungen machen. Am besten wirkten bestimmte mrna-kandidaten nach ersten Erkenntnis­sen im Frühstadiu­m des Krebs.

Und es klingt nicht so, dass Sahin seine Firma von einem Riesen der „Big Pharma“schlucken lassen will. Biontech sei eine integriert­e mrna-schmiede mit eigener Produktion und einem gewaltigen Vorsprung dank 20 Jahren Forschung, sagt er. Die Aktie der Mainzer Pioniere legte am Dienstag zeitweise um vier Prozent zu.

„Wir haben mit der MRNA die Tür zu einer neuen Welt von Arzneimitt­eln geöffnet.“

Biontech‰gründer Ugur Sahin

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Foto: Biontech Biontech‰gründer Ugur Sahin: „Schnellste Entwicklun­g eines zugelassen­en Impfstoffs in der Geschichte der Medizin“.

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