So will Biontech die Medizin revolutionieren
Unternehmen Kaum eine Firma profitiert mehr von der Pandemie als der Mainzer Konzern. Jetzt will der Impfstoff-hersteller
viele andere Krankheiten mit seiner neuen Technologie therapieren. Wird Deutschland wieder die Apotheke der Welt?
München Ein bisschen ist Biontechgründer Ugur Sahin auf der Hauptversammlung seines Unternehmens ein Triumphgefühl anzumerken. Allerdings nicht mit übertriebenem Selbstbewusstsein, sondern, ganz im Gegenteil, mit Nervosität: Jedes Mal, wenn er in seiner Rede einen Satz über den historischen Durchbruch der von den Mainzern entwickelten mrna-technologie und den ersten weltweit zugelassenen Corona-impfstoff vorlesen will, droht er sich beinah zu verhaspeln.
„Das war die schnellste Entwicklung eines zugelassenen Impfstoffs in der Geschichte der Medizin“, sagt er über den Biontech-impfstoff. Ebenso sei die Order der Europäischen Union über weitere 900 Millionen Impfdosen im kommenden Jahr „eine der größten Bestellungen in der Geschichte der pharmazeutischen Produktion“, erklärt Sahin. „Wir haben mit der MRNA die Tür zu einer neuen Welt von Arzneimitteln geöffnet“, sagt der Forscher.
Tatsächlich war der Sieg im Wettrennen um den ersten Coronaimpfstoff für Biontech ein Erfolg, dessen Bedeutung für das Unternehmen – und vielleicht für die gesamte Pharmabranche – noch gar nicht abzusehen ist. Sahin will nichts weniger, als mit der neuen Technologie große Teile der Medizin zu revolutionieren. Bald sollen die genbasierten Wirkstoffe nicht nur Impfungen gegen Corona und andere Infektionskrankheiten ermöglichen, sondern auch die Behandlung von Krebs und anderen Krankheiten grundlegend verändern.
Branchen-analysten halten es durchaus für möglich, dass Deutschland mit der neuen Technologie wieder zur „Apotheke der Welt“werden könnte. Ende des 19. Jahrhunderts wurden hier Arzneimittel wie Aspirin erfunden und begründeten den Ruf der deutschen
Pharmaindustrie. In den vergangenen Jahrzehnten schluckten aber ausländische Konzerne aus den USA und der Schweiz zahlreiche Unternehmen. Die Fertigung verlagerte sich in Billiglohnländer.
Nach zahlreichen Fusionen, Übernahmen und Zerschlagungen schwand die Bedeutung der deutschen Global Player. Heute ist Bayer nur noch auf Platz 15 der weltgrößten Pharmakonzerne, Boehringer Ingelheim auf dem 17 Rang. Die auf über 500 Milliarden Euro geschätzte Branche beherrschen Namen wie Roche, Johnson & Johnson, Merck USA, Bristol Myers oder Pfizer. „Big Pharma“nennt man diese Riesen. Und das eher etwas verächtlich, angesichts der vielen umstrittenen Geschäftspraktiken, Preisdiktate und Scheininnovationen, die oft mehr der Gewinnmaximierung als dem tatsächlichen medizinischen Fortschritt zum Wohl der Patienten dienen.
Auch mrna-pioniere wie Biontech-chef Ugur Sahin oder Curevac-gründer Ingmar Hoerr sprechen oft von „Big Pharma“, um sich von den Multis abzugrenzen. Die Erforscher der neuen Technologie nehmen es wohlwollend zur Kenntnis, wenn sie mit Apple oder Tesla verglichen werden. Jenen einstigen Start-ups, die ganze Branchen umgekrempelt haben. Genau dies wollen sie auch, selbst wenn sie bei der Impfstoffherstellung mit Größen wie Pfizer oder Bayer kooperieren.
„Wir gründeten Biontech 2008, um eine individualisierte Krebsmedizin zu etablieren, die auf den jeweiligen Patienten und die genetischen Eigenschaften seines Tumors passgenau zugeschnitten ist“, sagt Sahin. Das Ziel bleibt. Doch jetzt ist Biontech, anders als geplant, einer der größten Impfstoffhersteller der Welt. Allein das neue Marburger Werk wird kommendes Jahr eine Milliarde Dosen herstellen.
Bei der mrna-technologie handelt es sich um genbasierte Impfstoffe. Der Körper erhält digital am Computer entwickeltes genetisches Material als eine Art Bauplan für den Bau von Virusproteinen in den menschlichen Zellen. Die Hauptarbeit erledigt dann das menschliche
Immunsystem. Es bildet Antikörper und Killerzellen gegen das Virus.
Die mrna-pioniere wollen diese Art der Therapie auf zahlreiche andere Bereiche ausdehnen. „Bei 80 Prozent aller Krankheiten ist das Immunsystem involviert“, sagt Sahin. Biontech wolle neue therapeutische Dimensionen erschließen. Er nennt Krebs, Allergien, Autoimmunund Entzündungserkrankungen. Das Unternehmen mit seinen über 2000 Mitarbeitern forsche auch an Impfstoffen gegen HIV und Tuberkulose. Für einen Grippe-impfstoff sollen noch im Sommer die klinischen Studien beginnen.
Auch im Hauptfeld Krebsforschung gibt es trotz der schnellen Entwicklung des Corona-impfstoffs Fortschritte. Bei Mitteln zur Therapie von Hautkrebs und Tumoren laufen bereits klinische Studien. Allerdings will der gelernte Krebsforscher keine falschen Hoffnungen machen. Am besten wirkten bestimmte mrna-kandidaten nach ersten Erkenntnissen im Frühstadium des Krebs.
Und es klingt nicht so, dass Sahin seine Firma von einem Riesen der „Big Pharma“schlucken lassen will. Biontech sei eine integrierte mrna-schmiede mit eigener Produktion und einem gewaltigen Vorsprung dank 20 Jahren Forschung, sagt er. Die Aktie der Mainzer Pioniere legte am Dienstag zeitweise um vier Prozent zu.
„Wir haben mit der MRNA die Tür zu einer neuen Welt von Arzneimitteln geöffnet.“
Biontechgründer Ugur Sahin