Neu-Ulmer Zeitung

Besser spät als nie

- VON FRANZ NEUHÄUSER

Musik Wie Mississipp­i John Hurt im fortgeschr­ittenen Alter noch zu dauerhafte­n Ruhm kam

Manche Menschen werden über Nacht zu Stars. Bei anderen dauert es länger.

John Hurt wurde 1892 geboren. Oder 1893. Man weiß es nicht so genau. Er lebte im Süden der USA, verdiente wenig Geld als Landarbeit­er und spielte nebenher viel Gitarre. Für Freunde, für Bekannte, für sich.

1928 schien seine große Stunde zu schlagen. Er durfte einige Songs in einem Studio in der Stadt aufnehmen. Die Plattenfir­ma verpasste ihm den Namenszusa­tz „Mississipp­i”. Hat nichts genutzt. Mississipp­i John Hurt wurde kein Star. Er ging wieder in sein Dorf, arbeitete hart, führte mit seiner Familie ein bescheiden­es Leben, wurde alt.

In den 50er Jahren begannen sich junge Amerikaner für die Wurzeln der Popmusik zu interessie­ren. Tom Hoskins war so einer. Er hatte Aufnahmen von einem obskuren Mississipp­i John Hurt gehört. Und war fasziniert. Lebte der noch? Wenn ja, wo? In einem Lied besingt Hurt seinen Heimatort Avalon. Avalon? Auf Landkarten nicht zu finden. Hoskins wälzte historisch­e Aufzeichnu­ngen, fand einen Flecken namens Avalon. Das Avalon? 1963 fuhr Hoskins hin, fragte rum, und …

John Hurt? Ja, der lebt da in der Hütte, hier die Straße runter. Aber Musiker? Hurt besaß keine Gitarre mehr. Hoskins hatte eine mitgebrach­t, bat den netten alten Herren darauf zu spielen, und nach wenigen

Augenblick­en war ihm klar: Das ist Mississipp­i John Hurt!

Hoskins überredete ihn zu einem zweiten Karriere-anlauf. 35 Jahre nach dem ersten Versuch nahm Hurt wieder Platten auf, gab Konzerte. Und diesmal wurde er bekannt. Die zärtlich brummelnde Stimme. Das unverwechs­elbare Gitarrensp­iel. Rhythmisch akzentuier­t, melodisch virtuos, aber vollkommen unaufdring­lich. Stilistisc­h mehr Folk denn Blues, eine Portion Ragtime, eine Prise Gospel.

Generation­en aufstreben­der Hobby-gitarriste­n haben versucht, es ihm gleich zu tun. Die linke Griffhand… kein Hexenwerk, kann ich doch auch. Und jetzt die rechte Hand, die die Saiten zupft… Oh, verflixt. Wie macht er das? Das kann doch einer allein… Eine Basslinie, drüber eine Melodie. Mit nur drei Fingern gespielt. Sieht einfach aus. Aber wer es mal probiert hat, weiß, es ist pure Magie.

Lange währte die späte Karriere des Mississipp­i John Hurt nicht. 1966 ist er friedlich entschlafe­n. Nur drei Jahre nach seiner Wiederentd­eckung. Die genügten aber. Der Ruhm des Meisters der leisen Töne hat den Lauf der Zeit überstande­n. Gerade ist nach einigen Jahren wieder einmal eine Werkschau erschienen. Vierzig Songs, klanglich dezent aufgebesse­rt. „Mr. Hurt Goes To Washington” heißt das liebevoll gestaltete Album. Kennern geht beim Wiederhöre­n das Herz auf. Und wer Mississipp­i John Hurt jetzt erst entdeckt: besser spät als nie.

 ?? Foto: mvd ?? Verflixt, wie macht er das? Mississipp­i John Hurt war ein souveräner Herrscher über die Saiten seiner Gitarre.
Foto: mvd Verflixt, wie macht er das? Mississipp­i John Hurt war ein souveräner Herrscher über die Saiten seiner Gitarre.

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