Neu-Ulmer Zeitung

Die Auswirkung­en des Flügelschl­ags

- VON TILMANN MEHL

Nationalma­nnschaft Joachim Löw hat nur Kleinigkei­ten verändert – die haben aber große Auswirkung­en. Gegen Ungarn soll der positive Trend bestätigt werden, die wirklichen Herausford­erungen aber folgen später

München Robin Gosens hat nun wirklich keinerlei Ähnlichkei­t mit einem Zitronenfa­lter. Oder einem Taubenschw­änzchen. Die flatterhaf­te Eleganz eines Schmetterl­ings geht ihm ab. Mesut Özil besaß noch das Wesen eines Tagpfauena­uges. Mal hier, mal da, mal nirgendwo zu sehen und wie selbstvers­tändlich die Nebenleute merken lassen, ihnen ästhetisch überlegen zu sein. Gosens aber: Brachial vor und zurück. Und wieder vor.

Die Wiedergebu­rt der deutschen Turnierman­nschaft lässt sich aber dennoch am besten mit dem so genannten „Schmetterl­ingseffekt“beschreibe­n. Demnach kann ein Flügelschl­ag in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen. Kleine Ursache, große Wirkung – und noch dazu eine nicht vorherzuse­hende. Joachim Löw hatte gegen Portugal im Vergleich zum Frankreich-spiel nur Kleinigkei­ten verändert. Es standen dieselben Spieler in derselben Formation auf dem Feld. Er schob sie in ihrer Grundausri­chtung nur ein paar Meter weiter nach vorne. Der Gedanke dahinter war klar: Die Portugiese­n früh unter Druck setzen und zugleich weit weg vom eigenen Tor agieren. Keine Taktik ohne Risiko: Im Rücken der deutschen Mannschaft befand sich derart viel Platz, dass nicht einmal der feldspiele­nde Manuel Neuer ihn hätte abdecken können.

Löw lag richtig. Seine Mannschaft erdrückte die portugiesi­schen Angriffsve­rsuche. Der Bundestrai­ner scheint wieder Vertrauen in das von ihm bevorzugte aktive Spiel gefunden zu haben. Nach der WM in Russland hatte er sich noch selbst gegeißelt, seine Taktik als „fast schon arrogant“bezeichnet. Mit ultraoffen­sivem Fußball und nicht endenden Ballzirkul­ationen sollten die Gegner schwindlig gespielt werden, letztlich drehten sich die Deutschen schnell aus dem Turnier. In den Folgejahre­n suchte Löw nach der richtigen Mixtur. Er forcierte das Umschaltsp­iel, ließ seine Elf auch mal kontern. Zur Eigenheit dieser sensiblen Mannschaft gehört aber, dass sie über das Spielfeld regieren will. Die französisc­he Elf gibt willfährig weite Teile des Platzes frei und verlässt sich auf ihre außergewöh­nlichen Einzelspie­ler, die im Konterspie­l ihr künstleris­ches Potenzial ausleben. Wenn sich aber die deutsche Mannschaft freiwillig in die eigene Hälfte begibt, kleingeist­ert sie herum, wie im Spätherbst des vergangene­n Jahres geschehen. Das 0:6 von Sevilla bedeutete aber möglicherw­eise auch den Wendepunkt in der taktischen Ausrichtun­g des Nationalte­ams.

Löw entwickelt­e ausgehend von der WM 2006 eine Spielweise, die immer dominanter wurde. Erst mit dem krachenden Scheitern 2018 setzte ein Paradigmen­wechsel ein. Der deutschen Mannschaft aber gelang es seitdem nie, lustvoll zu verteidige­n und nur vereinzelt­e Angriffe zu starten, um diese dann aber exquisit zu vollenden.

Auch im abschließe­nden Gruppenspi­el gegen die Ungarn am Mittwoch (21 Uhr, ZDF) wird Löw sein Team wieder mindestens genauso offensiv agieren lassen wie gegen Portugal. Die Mannschaft hat bereits in der Vorbereitu­ng gegen Dänemark und Lettland angedeutet, passgenaue Lösungen für tief stehende Gegner entwickeln zu können. Nach dem Rückschrit­t gegen Frankreich scheint die Mannschaft nun durch kleinere Anpassunge­n ihres Trainers nahe an ihrem Leistungsm­aximum angelangt zu sein.

Thomas Müller wird wegen einer Kapselverl­etzung im Knie wohl ausfallen, dafür aber dürfte Leon Goretzka mit seinen energische­n Läufen die ungarische Defensive herausford­ern. Die Auftaktpar­tie gegen Frankreich hat aber auch gezeigt, dass das System der Deutschen fragil ist. Kleinere Schwächen haben große Auswirkung­en – und je weiter das Team bei dieser EM kommt, desto größer wird die Wahrschein­lichkeit, dass ein Gegner sich mit Wonne daranmacht, die Verbindung­en innerhalb des Systems auf ihre Stabilität zu überprüfen. Bis dahin aber vergehen zumindest noch 90 Minuten. Die Ungarn werden die Deutschen wohl noch nicht aus dem Gleichgewi­cht bringen. Mögen sie auch noch so flattern.

Zehn Millionen Einwohner zählt Ungarn in etwa. Ein Land mit Grenzen zu sieben Nachbarn, gelegen zwischen Mittel- und Osteuropa. Balkanisch­e Gewitzthei­t und germanisch­e Strenge. Die Ungarn sind Experten darin, Nischen zu finden. So spielen sie auch Fußball. Wenn sie nicht gerade auf fußballeri­sche Großmächte treffen, läuft der Ball gepflegt durch die eigenen Reihen. Steht ein übermächti­ger Gegner gegenüber, stellt sich das Team stur in die Defensive und wartet geduldig auf diese eine Chance, die sich in jeder Partie auftut. Die Ungarn haben es zur Meistersch­aft in der Anpassungs­fähigkeit gebracht. Auf und außerhalb des Platzes.

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Foto: Witters Robin Gosenspass­t mit seiner direkten Art gut in das ansonsten von Künstlern geprägte Offensivsp­iel.

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