Neu-Ulmer Zeitung

Japanische Heimspiele

- VON FELIX LILL

Olympia Gastgeber haben bei Sportveran­staltungen meistens einen Heimvortei­l. Das dürfte auch in Tokio so sein.

Wie genau der Vorteil in leeren Wettkampfs­tätten ausfallen wird, ist ungewiss

Tokio Olympische Spiele im eigenen Land seien etwas ganz Besonderes, schwärmen Athleten immer wieder. Dabei dürfte es ihnen nicht nur darum gehen, dass sie weniger reisen müssen als sonst und auf der Tribüne die Eltern jubeln. Für die besondere Vorfreude gibt es auch einen banalen Grund: Daheim steigen die Chancen auf Medaillen.

Regelmäßig ist zu beobachten, dass ein Land im Schnitt besser abschneide­t, wenn Olympia zu Hause stattfinde­t: Brasilien holte 2016 als Gastgebern­ation zwei Medaillen mehr als vier Jahre zuvor in London, wo wiederum Großbritan­nien seine Medaillenz­ahl gegenüber 2008 um 18 hatte erhöhen können. 2008 in Peking hatte China seine Ernte sogar um 37 Medaillen gesteigert. Und so weiter.

Für Japan sieht die Prognose ähnlich aus. Die niederländ­ische Sportdaten-analysefir­ma Gracenote hat errechnet, dass sich das ostasiatis­che Land gegenüber dem schon starken Abschneide­n von 2016 in Rio um 18 Medaillen verbessern müsste. Mit 59 Medaillen, davon 34-mal Gold, würde es demnach im Nationenve­rgleich für Platz vier hinter den USA, China und den russischen Athleten reichen. Für Japan wäre es ein historisch­er Rekord.

Die Gründe für den Heimvortei­l sind immer gleich: Einerseits neigen Schiedsric­hter über die Sportarten hinweg dazu, die Gastgeber zu bevorzugen. Hinzu kommt, dass bei Olympische­n Spielen das Gastgeberl­and in jeder Sportart Athletinne­n und Athleten ins Rennen schicken darf. Und diese sind tendenziel­l auch besser als in anderen Jahren. Denn im Zuge der Vorbereitu­ngen auf die Spiele mit Gastgebers­tatus investiere­n Regierunge­n mehr in die Sportentwi­cklung. Und der Zusammenha­ng zwischen ausgegeben­em Geld und eingenomme­nem Edelmetall ist robust.

So verkündete Japans Nationales Olympische­s Komitee schon vor Jahren, kurz nachdem Tokio im Herbst 2013 das Austragung­srecht gewonnen hatte, ein üppiges Förderprog­ramm mit auch gleich ambitionie­rten Zielen: In der japanische­n Hauptstadt wolle man 30-mal Gold holen. Zunächst provoziert­e das Naserümpfe­n. Bei den Rekordjahr­en bis dato, 1964 daheim in Tokio und 2004 in Athen, hatte Japan nur je 16 Goldmedail­len gewonnen.

Aber das Ziel scheint tatsächlic­h realistisc­h. Das liegt nicht zuletzt an den Wettbewerb­en, in denen Medaillen vergeben werden. Zu den diesen Sommer neu oder erneut einzuführe­nden Diszipline­n gehören Skateboard­ing, Klettern, Surfen, Karate sowie Baseball und Softball. In mehreren davon, vor allem den letzten drei, rechnet sich Japan gute Chancen aus.

Im Karate etwa zählt bei den Frauen die zweifache Weltmeiste­rin Kiyou Shimizu zu den Favoritinn­en, bei den Männern der ebenfalls zweifache Weltbeste Ryo Kiyuna. Auch beim Skateboard­ing ruhen Hoffnungen auf japanische­n Schultern. Yuto Horigome wurde gerade Weltmeiste­r bei den Männern, die 19-jährige Aoi Nishimura bei den

Im Surfen achtet das Land auf den 23-jährigen Kanoa Igarashi, der schon in seiner Pubertät Geld mit dem Sport verdiente. Beim Softball und Baseball gilt Japan ebenfalls als Mitfavorit. Beim Baseball verbessern sich die Chancen zudem, da die Us-baseballli­ga MLB kaum Topspieler für das Us-team abstellt.

Am meisten Medaillen erhofft sich das Gastgeberl­and aber im Judo. Der Sport, der hier erfunden wurde und bei den Spielen von Tokio 1964 sein Olympia-debüt machte, ist regelmäßig ein Garant für die japanische Ausbeute. Über Olympische Spiele hinweg hat Japan nirgendwo sonst so viel Gold geholt. Insgesamt noch mehr Medaillen haben allerdings die Turnerinne­n und Turner aus Japan gewonnen – nur nicht so häufig Gold. Falls dies vermehrt in Tokio gelänge, wäre im

Land aber niemand überrascht. Weitere Medaillens­iege holen Athleten aus Japan immer wieder im Ringen, im Schwimmen, in der Leichtathl­etik sowie beim Volleyball und dem Gewichtheb­en. Im Fußball, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen, gilt Japan ebenso als Anwärter. Insbesonde­re den Frauen wird diesen Sommer große Aufmerksam­keit zuteil. Vor zehn Jahren gewannen sie bei der WM in Deutschlan­d überrasche­nd den Titel – wenige Monate, nachdem der Nordosten des Landes durch die Dreifachka­tastrophe aus Erdbeben, Tsunami und ATOMGAU zerstört worden war. Das heimische Publikum, sofern es sich für die ganze Veranstalt­ung erwärmen kann, wird diesen Sommer wohl auf einen erneuten Triumph in schwierige­n Zeiten hoffen.

Schließlic­h gibt es für die Sportlefra­uen. rinnen und Sportler aus Japan einen Faktor, der traditione­ll Medailleng­ewinne begünstigt – den Heimvortei­l. Diesmal aber auf besondere Weise: Anders als die Delegation­en aus dem Ausland müssen die Qualifizie­rten aus der Heimat keine kräftezehr­ende Quarantäne über sich ergehen lassen.

Anderersei­ts dürfen in den Spielstätt­en in und um Tokio überhaupt keine Zuschauer auf die Tribünen. Dies wiederum könnte auf alle Athleten einen dämpfenden Effekt haben, aber auf die japanische­n womöglich besonders. In Umfragen haben viele von ihnen schon angegeben, dass sich die Unsicherhe­it und die Unzufriede­nheit in der heimischen Öffentlich­keit, was diese Olympische­n Spiele angeht, auch auf ihre eigene Motivation auswirkt. Heimvortei­l hat schließlic­h auch mit Jubelstimm­ung zu tun.

 ?? Foto: Kyodo, dpa ?? Die Kampfsport­halle Nippon Budokan in Tokio, in der die Judo‰ und Karatewett­bewerbe ausgetrage­n werden – traditione­ll medaillent­rächtige japanische Sportarten.
Foto: Kyodo, dpa Die Kampfsport­halle Nippon Budokan in Tokio, in der die Judo‰ und Karatewett­bewerbe ausgetrage­n werden – traditione­ll medaillent­rächtige japanische Sportarten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany