Die vielen Facetten des 20. Jahrhunderts
Serie Neue Formen und ungewohnte Motive: Das vergangene Jahrhundert brachte Vielfalt
in die Kunst, auch im Landkreis Neu-ulm. Das zeigt das Finale unserer Kunstzeitreise
Landkreis Neuulm Im Anklang an den späteren Bestseller des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama betrachtete manch einer das ausgehende 19. Jahrhundert tatsächlich als das „Ende der Geschichte“. Die Nationalstaaten hatten sich formiert, die Industrialisierung versprach Wohlstand, wenn auch nicht für alle, und die Kunst, zumal die Architektur, zeigte sich gesättigt. Zeitgenossen bezeichneten den Historismus mit all seinen Neo-anklängen als stilistische Sackgasse. Dass es dennoch einen Ausweg daraus geben sollte, untersuchen wir in unserer letzten Kunstzeitreise, in der Jugendstil und Expressionismus als bedeutendste Vertreter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen dominanten Platz einnehmen.
Wie bereits der nüchterne und klare Klassizismus den üppigen Barock und das verspielte Rokoko abgelöst hatte, so stand nun die schwere, als schwülstig empfundene Architektur des Deutschen Kaiserreiches auf dem Prüfstand. Trotz der geistigen und gesellschaftlichen Enge des Wilhelminismus formierte sich in urbanem Raum durchaus eine Kunstauffassung, welche einerseits die technischen Errungenschaften der Moderne zu nutzen verstand, dabei aber vorzugsweise auf natürliche und florale Motive zurückgriff. Diese letztendlich gesamteuropäische Ausprägung wurde in Frankreich „Art nouveau“, in englischsprachigen Ländern „Modern art“und in Deutschland „Jugendstil“genannt.
Der Name rührt offenbar vom Titel einer Münchner Zeitschrift mit dem Namen „Jugend“, die in jenen Jahren aufgelegt wurde. Eine zuvor nicht gekannte Leichtigkeit in Form und Farbe beherrschte die erschaffenen Objekte. Wo sich vor wenigen Jahren noch Balkone tragende Atlanten über einem massiven Säulenportikus erhoben, zierte nun ein Band aus pastellfarbenen Blättern neben ornamentalen Reliefmasken die Fassade. Zierrat und Gesamtbild wirken organisch, geradezu eine Einheit mit der umgebenden Natur bildend.
Der Erste Weltkrieg mit seinen Millionen Toten und Verwundeten brachte eine tiefe Zäsur nicht nur des politischen und sozialen Lebens, sondern auch in der Kunstgeschichte. Die Geschehnisse und persönliche Erlebnisse des gegenseitigen schrien regelrecht nach Medien, die als Ausdruck eben diese Gefühle zu tragen hatten. Die Formensprache insgesamt wurde schroffer, Kanten, Spitzen und Ecken fanden in die Architektursprache der Zwanzigerjahre zurück.
In der Malerei herrschten grelle Farben vor. Repräsentativ sei hier Edvard Munchs „Der Schrei“genannt. Dieses Ausdrucksbedürfnis ging unter dem Namen „Expressionismus“in die Kunstgeschichte ein.
Für beide, Jugendstil und Expressionismus,
finden sich im heutigen Landkreis Neu-ulm nicht wenige Zeugnisse, sodass ein jeder und jede gerne selbst auf Entdeckungstour gehen mag. Eine geschlossene Baureihe mit Häusern, welche allesamt einige Jugendstilelemente aufabschlachtens weisen, kann in der Neu-ulmer Wilhelmstraße bewundert werden. Kein Gebäude gleicht dem anderen, eine Vielzahl von Formen und Farben schafft eine Individualität im grauen Stadtraum.
Auch die Schäfer-villa gegenüber des Landratsamts weist mit ihren Zierformen und ihrer Entstehung im Jahr 1909 in diese Phase der kunstgeschichtlichen Experimentierfreudigkeit. In Weißenhorn befinden sich schöne Beispiele des Jugendstils unter anderem in der Fuggerstraße, auch in Illertissen an der Südliche Halde versteckt sich ein prächtiges Gebäude in einem üppigen Garten.
Mit der Neu-ulmer Stadtpfarrkirche besitzt die Kreisstadt ein Kulturgut besonderen Ranges. Das während der Weimarer Republik von Dominikus Böhm umgebaute und erweiterte katholische Gotteshaus besticht durch seinen intimmystisch wirkenden Innenraum. Gleich einem Schiffsrumpf spannen sich die Bögen über die Eintretenden, man wähnt sich geradezu in einer Kathedrale der Gotik.
Auch hier dominiert das Zackenmotiv, Schmuckelemente sind rar, wenn vorhanden, dann zumeist in den Träger integriert. Trotz der dynamischen Linien wirkt das Gotteshaus dabei als Ort der Ruhe, wozu nicht zuletzt auch die farbigen Reihen der Glasfenster ihren Teil beisteuern. Wer Lust auf eine weitere expressionistische Erkundung hat, möchte sich zur Römervilla am Ende des Glacisparks begeben. Das dortige Portal kommt den Betrachtenden in seiner Formensprache bereits bekannt vor, wenn auch das gesamte Bauwerk des Architekten Hugo Häring in keiner ausgesprochenen Stilreinheit errichtet wurde.
Die nächste Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sollte der Kunst abermals einen tiefen Einschnitt bereiten. Zumal in Deutschlands Architektur folgte in den Nachkriegsjahren oft Schnelligkeit vor Originalität. Die Baustoffe der Zeit hießen Beton, Stahl und Glas. Über deren ästhetische Wirkung ließe sich streiten, wobei wir aber stets die Umstände der Neugestaltung im Auge behalten müssen. Auch auf kulturellem Gebiet tendierte man zu einer größtmöglichen Distanzierung von Nazismus und Wilhelminismus.
Die Moderne und später die Postmoderne, welche durchaus wieder Anklang an bekannte Formen und Materialien nahm, erlauben wir uns, in dieser Reihe außen vor zu lassen. Herzlichen Dank für Ihre Begleitung durch die Jahrhunderte der Kunst.