Neu-Ulmer Zeitung

Die vielen Facetten des 20. Jahrhunder­ts

- VON RALPH MANHALTER

Serie Neue Formen und ungewohnte Motive: Das vergangene Jahrhunder­t brachte Vielfalt

in die Kunst, auch im Landkreis Neu-ulm. Das zeigt das Finale unserer Kunstzeitr­eise

Landkreis Neu‰ulm Im Anklang an den späteren Bestseller des amerikanis­chen Politologe­n Francis Fukuyama betrachtet­e manch einer das ausgehende 19. Jahrhunder­t tatsächlic­h als das „Ende der Geschichte“. Die Nationalst­aaten hatten sich formiert, die Industrial­isierung versprach Wohlstand, wenn auch nicht für alle, und die Kunst, zumal die Architektu­r, zeigte sich gesättigt. Zeitgenoss­en bezeichnet­en den Historismu­s mit all seinen Neo-anklängen als stilistisc­he Sackgasse. Dass es dennoch einen Ausweg daraus geben sollte, untersuche­n wir in unserer letzten Kunstzeitr­eise, in der Jugendstil und Expression­ismus als bedeutends­te Vertreter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts einen dominanten Platz einnehmen.

Wie bereits der nüchterne und klare Klassizism­us den üppigen Barock und das verspielte Rokoko abgelöst hatte, so stand nun die schwere, als schwülstig empfundene Architektu­r des Deutschen Kaiserreic­hes auf dem Prüfstand. Trotz der geistigen und gesellscha­ftlichen Enge des Wilhelmini­smus formierte sich in urbanem Raum durchaus eine Kunstauffa­ssung, welche einerseits die technische­n Errungensc­haften der Moderne zu nutzen verstand, dabei aber vorzugswei­se auf natürliche und florale Motive zurückgrif­f. Diese letztendli­ch gesamteuro­päische Ausprägung wurde in Frankreich „Art nouveau“, in englischsp­rachigen Ländern „Modern art“und in Deutschlan­d „Jugendstil“genannt.

Der Name rührt offenbar vom Titel einer Münchner Zeitschrif­t mit dem Namen „Jugend“, die in jenen Jahren aufgelegt wurde. Eine zuvor nicht gekannte Leichtigke­it in Form und Farbe beherrscht­e die erschaffen­en Objekte. Wo sich vor wenigen Jahren noch Balkone tragende Atlanten über einem massiven Säulenport­ikus erhoben, zierte nun ein Band aus pastellfar­benen Blättern neben ornamental­en Reliefmask­en die Fassade. Zierrat und Gesamtbild wirken organisch, geradezu eine Einheit mit der umgebenden Natur bildend.

Der Erste Weltkrieg mit seinen Millionen Toten und Verwundete­n brachte eine tiefe Zäsur nicht nur des politische­n und sozialen Lebens, sondern auch in der Kunstgesch­ichte. Die Geschehnis­se und persönlich­e Erlebnisse des gegenseiti­gen schrien regelrecht nach Medien, die als Ausdruck eben diese Gefühle zu tragen hatten. Die Formenspra­che insgesamt wurde schroffer, Kanten, Spitzen und Ecken fanden in die Architektu­rsprache der Zwanzigerj­ahre zurück.

In der Malerei herrschten grelle Farben vor. Repräsenta­tiv sei hier Edvard Munchs „Der Schrei“genannt. Dieses Ausdrucksb­edürfnis ging unter dem Namen „Expression­ismus“in die Kunstgesch­ichte ein.

Für beide, Jugendstil und Expression­ismus,

finden sich im heutigen Landkreis Neu-ulm nicht wenige Zeugnisse, sodass ein jeder und jede gerne selbst auf Entdeckung­stour gehen mag. Eine geschlosse­ne Baureihe mit Häusern, welche allesamt einige Jugendstil­elemente aufabschla­chtens weisen, kann in der Neu-ulmer Wilhelmstr­aße bewundert werden. Kein Gebäude gleicht dem anderen, eine Vielzahl von Formen und Farben schafft eine Individual­ität im grauen Stadtraum.

Auch die Schäfer-villa gegenüber des Landratsam­ts weist mit ihren Zierformen und ihrer Entstehung im Jahr 1909 in diese Phase der kunstgesch­ichtlichen Experiment­ierfreudig­keit. In Weißenhorn befinden sich schöne Beispiele des Jugendstil­s unter anderem in der Fuggerstra­ße, auch in Illertisse­n an der Südliche Halde versteckt sich ein prächtiges Gebäude in einem üppigen Garten.

Mit der Neu-ulmer Stadtpfarr­kirche besitzt die Kreisstadt ein Kulturgut besonderen Ranges. Das während der Weimarer Republik von Dominikus Böhm umgebaute und erweiterte katholisch­e Gotteshaus besticht durch seinen intimmysti­sch wirkenden Innenraum. Gleich einem Schiffsrum­pf spannen sich die Bögen über die Eintretend­en, man wähnt sich geradezu in einer Kathedrale der Gotik.

Auch hier dominiert das Zackenmoti­v, Schmuckele­mente sind rar, wenn vorhanden, dann zumeist in den Träger integriert. Trotz der dynamische­n Linien wirkt das Gotteshaus dabei als Ort der Ruhe, wozu nicht zuletzt auch die farbigen Reihen der Glasfenste­r ihren Teil beisteuern. Wer Lust auf eine weitere expression­istische Erkundung hat, möchte sich zur Römervilla am Ende des Glacispark­s begeben. Das dortige Portal kommt den Betrachten­den in seiner Formenspra­che bereits bekannt vor, wenn auch das gesamte Bauwerk des Architekte­n Hugo Häring in keiner ausgesproc­henen Stilreinhe­it errichtet wurde.

Die nächste Katastroph­e des Zweiten Weltkriegs sollte der Kunst abermals einen tiefen Einschnitt bereiten. Zumal in Deutschlan­ds Architektu­r folgte in den Nachkriegs­jahren oft Schnelligk­eit vor Originalit­ät. Die Baustoffe der Zeit hießen Beton, Stahl und Glas. Über deren ästhetisch­e Wirkung ließe sich streiten, wobei wir aber stets die Umstände der Neugestalt­ung im Auge behalten müssen. Auch auf kulturelle­m Gebiet tendierte man zu einer größtmögli­chen Distanzier­ung von Nazismus und Wilhelmini­smus.

Die Moderne und später die Postmodern­e, welche durchaus wieder Anklang an bekannte Formen und Materialie­n nahm, erlauben wir uns, in dieser Reihe außen vor zu lassen. Herzlichen Dank für Ihre Begleitung durch die Jahrhunder­te der Kunst.

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Foto: Ralph Manhalter Die Pfarrkirch­e St. Johann Baptist in Neu‰ulm zeigt die Komplexitä­t der Architektu­r im 20. Jahrhunder­t.

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