Mehr Demokratie wagen – in der Kunst
Kultur Wie funktioniert das Museum der Zukunft? Demokratisch? Dieser Frage werfen gleich zwei neue Ausstellungen im Museum Ulm auf. Eine Gemeinschaft im Netz diskutiert und entscheidet – und jedermann kann sein schönstes Bild ausstellen
Ulm Entschuldigen Sie, wenn ich frage, aber: Welches Bild hängt denn an Ihrer Wohnzimmerwand? Oder direkt über Ihrem Bett? Welches Lieblingskunstwerk hüten Sie in Ihrem Zuhause? Genau diese Frage hat das Museum Ulm 2021 in einem offenen Aufruf gestellt – und angesprochen war jeder. Das Ergebnis zeigt nun eine Ausstellung: Unter dem Motto „Mein schönstes Bild bei mir zuhaus“präsentieren Menschen, Bürgerinnen und Bürger, Kunstliebhaber ihr persönliches Lieblingsstück, ganz öffentlich. Röhrender Hirsch in Öl hängt neben Kindermalerei, im nächsten Raum warten Kostbarkeiten von Joseph Beuys oder Niki de Saint Phalle. Es ist eine der zwei neuen Ausstellungen im Museum Ulm. Beide haben eines gemeinsam: Mut zur Demokratie.
Die Kunst aus den Wohnzimmern ins Museum zu holen, diese Idee hatte vor 50 Jahren ein findiger Ulmer Kunstsammler. Kurt Fried öffnete damals sein „Studio F“für Werke aus den Stuben der Stadt. 2021 erlebt diese Aktion eine Neuauflage: „Das schönste Bild bei mir zuhaus“. Aber es geht hier um „das schönste Bild, nicht das beste“, erklärt Stefanie Dathe, Direktorin des Museum Ulm. Kostspielig muss das Werk nicht sein. Das Museum möchte Kunst zeigen, die ihre Besitzer ganz persönlich berührt und im Leben begleitet.
Eine knallige Saint-phalle-büste ist das einzige Objekt, das schon vor 50 Jahren in der Fried-ausstellung
sehen war. Ansonsten gesellt sich ein Urlaubsschnappschuss aus Venedig zum Bild eines rostigen Hydranten, gleich neben heimeligen Ölschinken und Katzenbildern, die vor Romantik strotzen. 180 Einreichungen kamen aus Ulm, der Region, halb Deutschland. Gut 160 Werke präsentiert das Museum – ganz frei und individuell, nur sanft nach Themen sortiert.
Unter den Lieblingsstücken 2021 finden sich Malereien, Skulpturen – und diesmal auch Fotos. „Wir haben gestaunt, dass die Fülle an Gattungen diesmal deutlich vielfältiger ist“, sagt Dathe. Damals sei Fried fast ein wenig enttäuscht gewesen von der Auswahl, erzählt die Museums-chefin – aber sie sei begeistert von der Auslese 2021. Vor 50 Jahren ließ Fried einen Publikumsfavoriten unter den Lieblingsstücken wählen – auch dazu ruft das Museum Ulm wieder auf. Jeder kann mit einer Karte abstimmen, bis zur Kulturnacht am 18. September.
„Nicht nur verwahren – zeigen!“, das sei Frieds Motiv gewesen, erzählt Dathe. Vor 40 Jahren starb der Ulmer Sammler. 2021 erinnert Ulm aber auch an 75 Jahre Demokratie – und noch vor kurzem widmete das Museum Ulm eine Schau Joseph Beuys, der diesen Satz hinterlassen hat: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“In einer zweiten Ausstellung stellt das Museum eine neue These auf. Zugespitzt und umgemünzt: „Jeder Mensch ist ein Kurator.“
Die Spielwiese, auf der beide Ausstellungen entstanden sind, ist die Internet-seite nextmuseum.io. Diese freie Diskussions-plattform funktioniert wie ein Marktplatz für Debatzu ten und Ideen, aus denen Ausstellungen entstehen. Links führen direkt zur entsprechenden Telegram-chatgruppen.
Die Projektleiterin Marina Bauernfeind erklärt das Ziel: „Wir möchten wissen, welche Rolle Community im Museum der Zukunft spielen könnte.“Die Neugier der Netz.gemeinschaft auf das Projekt „Kunstreichgewächse – bitte gießen!“sei jedenfalls schnell übergeschwappt, erzählt Bauernfeind: „Die Community chattete teilweise bis nachts um 2 Uhr.“
Bauernfeind schrieb in die Gruppe: Was kommt Euch in den Sinn, wenn ihr an einen Paradiesgarten denkt? Satte 151 Werke fluteten als Vorschläge herein. Die Community nahm sie unter die Lupe, diskutierte, um aus den vielen Impulsen eine Ausstellung zu entwickeln. 18 dieser Werke zeigt nun das Museum Ulm.
Im Werk „Elektro-mistel“der Gruppe „Raumzeitpiraten“tanzt, blinkt und zuckt es in einem Urwald aus Topfpflanzen. Auf die Museums-besucher im Raum reagieren Sensoren, die Lichterketten zum leuchten bringen und Äste zum zappeln. Ein unheimliches Paradies, wie eine Dschungel-disco. Urwüchsig -natürlich nur auf den ersten Blick.
Mitten im Raum steht ein Labortisch nebst einem Regal, in dem Pflanzen keimen, aus Töpfen und in Petrischalen. Der Werktitel klingt wie ein Wahlkampfspruch: „Fremde Pflanzen integrieren“. Hier wachsen „Neophyten“, also Pflanzen, die hier nicht heimisch sind. Den Druck in ihren Blättern messen Sensoren – und der Wert soll den Grad der gelungenen Integration anzeigen. Die Frage ist ganz und gar nicht botanisch: Wer ist willkommen im Garten Eden? Und wenn er sich nicht anpasst?
Altmeisterlich wirken Bas Meeuws malerisch bestückte Blumenvasen. Aber was wie ein Stillleben eines großen Holländers wirkt, in barocker Vergänglichkeit, ist zauberhaft am Computer konstruiert. Ein Videospielszenario hat wiederum ein internationales Künstler-duo entwickelt: 8000 Figuren haben sie gottgleich in einem Programm erschaffen, eine wilde Insel mit Steinen, Pflanzen, Zivilisationsruinen, einem Menschen und Füchsen. Diese Welt baut sich immer wieder neu auf, in freien Variationen. Ein Spiel mit künstlichem Intelligenzen und Paradiesen.
Auszüge aus den Kuratoren-chats hat das Museum an die Wand gedruckt: Über die persische Wurzel des Begriffs „Paradies“treibt die Diskussion Blüten und mündet in der Nahostkonflikt-diskussion. Die Idee ist, dass jeder hier ein Wörtchen beizutragen hat – auch Besucher. Sie können Anmerkungen zum Werk digital auf einem I-pad eintragen, die dann digital für alle abrufbar sind, beim Betrachten des Werks.
Mehr Demokratie wagen? Solche Projekte sollen Museen den Weg in die Zukunft bahnen. Diese Lust an der Diskussion ist aber auch ein Signal nach langem Lockdown. Stefanie Dathes Botschaft: „Wir wollen zurück in die Gesellschaft.“