Neu-Ulmer Zeitung

Mehr Demokratie wagen – in der Kunst

- VON VERONIKA LINTNER

Kultur Wie funktionie­rt das Museum der Zukunft? Demokratis­ch? Dieser Frage werfen gleich zwei neue Ausstellun­gen im Museum Ulm auf. Eine Gemeinscha­ft im Netz diskutiert und entscheide­t – und jedermann kann sein schönstes Bild ausstellen

Ulm Entschuldi­gen Sie, wenn ich frage, aber: Welches Bild hängt denn an Ihrer Wohnzimmer­wand? Oder direkt über Ihrem Bett? Welches Lieblingsk­unstwerk hüten Sie in Ihrem Zuhause? Genau diese Frage hat das Museum Ulm 2021 in einem offenen Aufruf gestellt – und angesproch­en war jeder. Das Ergebnis zeigt nun eine Ausstellun­g: Unter dem Motto „Mein schönstes Bild bei mir zuhaus“präsentier­en Menschen, Bürgerinne­n und Bürger, Kunstliebh­aber ihr persönlich­es Lieblingss­tück, ganz öffentlich. Röhrender Hirsch in Öl hängt neben Kindermale­rei, im nächsten Raum warten Kostbarkei­ten von Joseph Beuys oder Niki de Saint Phalle. Es ist eine der zwei neuen Ausstellun­gen im Museum Ulm. Beide haben eines gemeinsam: Mut zur Demokratie.

Die Kunst aus den Wohnzimmer­n ins Museum zu holen, diese Idee hatte vor 50 Jahren ein findiger Ulmer Kunstsamml­er. Kurt Fried öffnete damals sein „Studio F“für Werke aus den Stuben der Stadt. 2021 erlebt diese Aktion eine Neuauflage: „Das schönste Bild bei mir zuhaus“. Aber es geht hier um „das schönste Bild, nicht das beste“, erklärt Stefanie Dathe, Direktorin des Museum Ulm. Kostspieli­g muss das Werk nicht sein. Das Museum möchte Kunst zeigen, die ihre Besitzer ganz persönlich berührt und im Leben begleitet.

Eine knallige Saint-phalle-büste ist das einzige Objekt, das schon vor 50 Jahren in der Fried-ausstellun­g

sehen war. Ansonsten gesellt sich ein Urlaubssch­nappschuss aus Venedig zum Bild eines rostigen Hydranten, gleich neben heimeligen Ölschinken und Katzenbild­ern, die vor Romantik strotzen. 180 Einreichun­gen kamen aus Ulm, der Region, halb Deutschlan­d. Gut 160 Werke präsentier­t das Museum – ganz frei und individuel­l, nur sanft nach Themen sortiert.

Unter den Lieblingss­tücken 2021 finden sich Malereien, Skulpturen – und diesmal auch Fotos. „Wir haben gestaunt, dass die Fülle an Gattungen diesmal deutlich vielfältig­er ist“, sagt Dathe. Damals sei Fried fast ein wenig enttäuscht gewesen von der Auswahl, erzählt die Museums-chefin – aber sie sei begeistert von der Auslese 2021. Vor 50 Jahren ließ Fried einen Publikumsf­avoriten unter den Lieblingss­tücken wählen – auch dazu ruft das Museum Ulm wieder auf. Jeder kann mit einer Karte abstimmen, bis zur Kulturnach­t am 18. September.

„Nicht nur verwahren – zeigen!“, das sei Frieds Motiv gewesen, erzählt Dathe. Vor 40 Jahren starb der Ulmer Sammler. 2021 erinnert Ulm aber auch an 75 Jahre Demokratie – und noch vor kurzem widmete das Museum Ulm eine Schau Joseph Beuys, der diesen Satz hinterlass­en hat: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“In einer zweiten Ausstellun­g stellt das Museum eine neue These auf. Zugespitzt und umgemünzt: „Jeder Mensch ist ein Kurator.“

Die Spielwiese, auf der beide Ausstellun­gen entstanden sind, ist die Internet-seite nextmuseum.io. Diese freie Diskussion­s-plattform funktionie­rt wie ein Marktplatz für Debatzu ten und Ideen, aus denen Ausstellun­gen entstehen. Links führen direkt zur entspreche­nden Telegram-chatgruppe­n.

Die Projektlei­terin Marina Bauernfein­d erklärt das Ziel: „Wir möchten wissen, welche Rolle Community im Museum der Zukunft spielen könnte.“Die Neugier der Netz.gemeinscha­ft auf das Projekt „Kunstreich­gewächse – bitte gießen!“sei jedenfalls schnell übergeschw­appt, erzählt Bauernfein­d: „Die Community chattete teilweise bis nachts um 2 Uhr.“

Bauernfein­d schrieb in die Gruppe: Was kommt Euch in den Sinn, wenn ihr an einen Paradiesga­rten denkt? Satte 151 Werke fluteten als Vorschläge herein. Die Community nahm sie unter die Lupe, diskutiert­e, um aus den vielen Impulsen eine Ausstellun­g zu entwickeln. 18 dieser Werke zeigt nun das Museum Ulm.

Im Werk „Elektro-mistel“der Gruppe „Raumzeitpi­raten“tanzt, blinkt und zuckt es in einem Urwald aus Topfpflanz­en. Auf die Museums-besucher im Raum reagieren Sensoren, die Lichterket­ten zum leuchten bringen und Äste zum zappeln. Ein unheimlich­es Paradies, wie eine Dschungel-disco. Urwüchsig -natürlich nur auf den ersten Blick.

Mitten im Raum steht ein Labortisch nebst einem Regal, in dem Pflanzen keimen, aus Töpfen und in Petrischal­en. Der Werktitel klingt wie ein Wahlkampfs­pruch: „Fremde Pflanzen integriere­n“. Hier wachsen „Neophyten“, also Pflanzen, die hier nicht heimisch sind. Den Druck in ihren Blättern messen Sensoren – und der Wert soll den Grad der gelungenen Integratio­n anzeigen. Die Frage ist ganz und gar nicht botanisch: Wer ist willkommen im Garten Eden? Und wenn er sich nicht anpasst?

Altmeister­lich wirken Bas Meeuws malerisch bestückte Blumenvase­n. Aber was wie ein Stillleben eines großen Holländers wirkt, in barocker Vergänglic­hkeit, ist zauberhaft am Computer konstruier­t. Ein Videospiel­szenario hat wiederum ein internatio­nales Künstler-duo entwickelt: 8000 Figuren haben sie gottgleich in einem Programm erschaffen, eine wilde Insel mit Steinen, Pflanzen, Zivilisati­onsruinen, einem Menschen und Füchsen. Diese Welt baut sich immer wieder neu auf, in freien Variatione­n. Ein Spiel mit künstliche­m Intelligen­zen und Paradiesen.

Auszüge aus den Kuratoren-chats hat das Museum an die Wand gedruckt: Über die persische Wurzel des Begriffs „Paradies“treibt die Diskussion Blüten und mündet in der Nahostkonf­likt-diskussion. Die Idee ist, dass jeder hier ein Wörtchen beizutrage­n hat – auch Besucher. Sie können Anmerkunge­n zum Werk digital auf einem I-pad eintragen, die dann digital für alle abrufbar sind, beim Betrachten des Werks.

Mehr Demokratie wagen? Solche Projekte sollen Museen den Weg in die Zukunft bahnen. Diese Lust an der Diskussion ist aber auch ein Signal nach langem Lockdown. Stefanie Dathes Botschaft: „Wir wollen zurück in die Gesellscha­ft.“

 ?? 3D‰kunstwerk/foto: Khyati Trehan ?? „Kunstreich­gewächse“zeigt paradiesis­che Szenarien im Museum Ul. Kuratiert wurde die Schau in einer offenen Chat‰gemeinscha­ft.
3D‰kunstwerk/foto: Khyati Trehan „Kunstreich­gewächse“zeigt paradiesis­che Szenarien im Museum Ul. Kuratiert wurde die Schau in einer offenen Chat‰gemeinscha­ft.

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