Neu-Ulmer Zeitung

Eine ganz neue Seite der Buchmesse

- VON STEFANIE WIRSCHING

Literatur Wer schiebt und drängelt denn da beim Weltfestiv­al des Lesens in Frankfurt? Niemand – und dies ist das Problem. Im Jahr nach der Corona-pause herrscht eine seltsame Atmosphäre bei der Präsentati­on der neuen Werke. Die einzige Schlange gibt es vor der Currywurst­bude

Frankfurt/main Mittags, halb eins in Frankfurt, Messegelän­de, der Hunger ist da. Suppe könnte man essen, Nudeln, Crêpes. Aber es ist dann wie jedes Jahr: Irgendwie haben alle plötzlich Lust auf Currywurst. Rind oder Schwein, Pommes oder nicht – die Schlange ist jedenfalls lang genug, um die Entscheidu­ng gründlich abzuwägen …

Das klingt jetzt vielleicht erst einmal gar nicht so interessan­t, es geht ja zum Glück nicht um die Wurst bei dieser Messe – aber irgendwie schon. Weil man es einfach nicht versteht. Ein Paradox. Wie kann es sein, dass man sich da drinnen in den Hallen beim Schlendern durch die Gänge so fühlt, als habe die 73. Buchmesse noch gar nicht richtig begonnen, sei so etwas wie ein Event nur für geladene Gäste, und da draußen gibt es plötzlich eine Schlange vor der Currywurst­bude, so lang wie in jedem Jahr? Wo hier doch fast nichts mehr so ist wie in jedem Jahr. Vom Buchmesse-direktor Juergen Boos ja so auch schon angekündig­t worden: Business as usual, aber nicht back to normal.

Was genau also ist eigentlich anders? Was normal – abgesehen vom Heißhunger auf Currywurst? Oder auch: Was erzählt die Buchmesse eigentlich in diesem Jahr? Die gleichen Geschichte­n, weniger Geschichte­n, andere Geschichte­n? Ein Streifzug durchs Messegelän­de und ein paar Antworten.

Und am besten fängt man natürlich dort an, wo sich auch sonst lange Schlangen bilden, aber es keine Wurst gibt, sondern geistige Nahrung zum Snacken. Vor einem Podium, zum Beispiel dem Blauen Sofa des ZDF, Halle 3.1. Alles wie immer, also das Sofa blau, gerade nimmt dort gegenüber der Moderatori­n Antje Rávik Strubel Platz. Für die aber auf jeden Fall schon mal nichts normal ist in diesem Jahr. Am Montagaben­d, kurz vor der Eröffnung, hat Strubel für ihren Roman

„Blaue Frau“den Deutschen Buchpreis erhalten, und anders als normal also ist die Schriftste­llerin nun einer der Stars dieser anderen Messe, erzählt auf dem Podium von ihrem Schreibpro­zess, wie sie mit dem Roman begann, in einer Wohnung in Helsinki – nämlich eigentlich auch nur mit Fragen.

Was will mir meine Figur erzählen? „Ich bin genauso ahnungslos in diesen Text eingestieg­en wie die Leserinnen und Leser“, sagt Antje Rávik Strubel. Hätte sie mehr gewusst, hätte sie sich dann darauf eingelasse­n? Acht Jahre hat sie an ihrem Roman geschriebe­n, das Buch zwischendu­rch weggelegt, weil sie so voller Wut war. Weil der Stoff sie so sehr mitgenomme­n hat. „Blaue Frau“handelt von einer Vergewalti­gung und wie das junge Opfer in eben einem solchen Plattenbau in

Helsinki mühsam versucht, sich selbst und die Welt wieder zusammenzu­setzen. Im Laufe ihrer Arbeit habe sie aus ihrem Umfeld immer öfter von sexuellen Übergriffe­n erfahren. Und sich immer mehr aufgeregt: „Man glaubt den Frauen nicht, man geht erst einmal davon aus, dass sie lügen.“

Ein schwerer Stoff also, vielleicht deswegen die Stille vor dem Podium. Vielleicht aber auch deswegen: Wie bei einem Gebiss mit großen Lücken sind die weißen Hocker fürs Publikum vor der Bühne aufgestell­t. Jeder Zahn eine Zuhörerin oder ein Zuhörer, alle mit Maske, sehr viele Zähne sind es nicht.

Früher und heute. Die Bilder schieben sich unweigerli­ch übereinand­er. Wobei das Früher ja nur zwei Jahre alt ist, dazwischen aber eine Lücke. Im letzten Jahr fand die Buchmesse nur digital statt, der diesjährig­en haben sie das Motto re:connect gegeben: Wiederverb­inden. Aber so richtig naherücken kann man sich halt doch noch nicht. Nur 25000 Besucherin­nen und Besucher sind pro Tag zugelassen. Wo man sich normalerwe­ise durch die Gänge schiebt, sich um Podien drängt, vor allem wenn eine Buchpreis-gewinnerin darauf sitzt, schaut man sich nun verwundert um. Weil es mit dem Gedränge ja auch so ist: Man steht ungern drin, aber hat zumindest das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, dort, wo etwas passiert – oder es eine Currywurst gibt. Demnach passiert auf der Messe in diesem Jahr relativ wenig.

Sagt einem nun auch Stephan Trudewind in seinem Stand im Erdgeschos­s der Halle 3, direkt gegenüber dem großen Carlsen-verlag, an dem sie in diesem Jahr mit einem neuen J.-k.-rowling-buch meterhoch werben. „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“heißt das Kinderbuch, und natürlich ist er sofort in rasendem Tempo die Bestseller­liste nach oben geklettert – insofern passt das ganz gut, dass man den Kopf in den Nacken legen muss, wenn man vor dieser Rowling-wand steht.

Bei Trudewind in seinem Stand der Edition Orient dagegen ist alles auf Augenhöhe: mehrsprach­ige Bilderbüch­er aus aller Welt, eines davon ein Märchen aus Eritrea, das von vier Ochsen erzählt, die es nicht mehr rechtzeiti­g nach Hause schaffen, die Hyänen warten schon. Düster also. Was nun auch zu den Worten von Trudewind passt: „Das ist hier doch ein bisschen wie ein Totentanz“, sagt der Verleger. „Eine gespenstis­che Ruhe.“Gerade seien zwei Kollegen bei ihm gesessen, „der erste Kontakt heute“. Mittlerwei­le ist es Nachmittag. Re:connect? Die Verbindung stottert.

Für einen wie Trudewind aber, Ein-mann-verlag, bräuchte es zumindest eine halbwegs normale Messe, damit sich die Reise und die Standkoste­n rentieren. Bräuchte es ein paar Buchhändle­rinnen zum Beispiel, die bei ihm stöbern, entdecken, vielleicht bestellen, weil ein

Märchen aus Eritrea eben kein Selbstläuf­er ist wie das Rowlingbuc­h. Zwischenfa­zit nun: „Zu wenig interessie­rte Leute, zu teuer.“

Früher, heute, morgen? Es könnte sein, dass die Buchmesse für immer anders bleibt, sagt Trudewind. Dass nicht mehr alle zurückkomm­en, die früher da waren, weil es sich einfach nicht rechnet. Selbst manche große Verlage fehlen in diesem Jahr, Diogenes aus der Schweiz zum Beispiel, Sparmaßnah­men, und das letzte Jahr hat ja gezeigt: Es geht auch ohne Messe, beziehungs­weise vieles auch digital.

Das Rechte- und Lizenzteam von dtv beispielsw­eise ist nicht angereist, die Geschäfte nämlich seien längst getätigt. Und dann gibt es ja auch andere Messen, Leipzig zum Beispiel, die Bildungsme­sse didacta, „die ist mittlerwei­le viel wichtiger für mich“, sagt Kleinverle­ger Trudewind.

Aber genug davon, am Stand nun doch noch Besuch, man plaudert: „Weißt du noch, wie bei Sebastian Fitzek damals die Schlange zum Signieren so lang war, dass man schon Wasser reichte, damit die Leute nicht umfallen?“– „Und jetzt schau dir das an.“

Alles anders also: kleiner, weniger als ein Drittel nur der üblichen Ausstellen­den, und vieles ist nicht mehr dort, wo es doch einmal war – das ganze Buchdorf umgebaut. „War hier nicht immer die Ardbühne?“, fragt eine Besucherin irritiert und wird rüber in die Festhalle geschickt. Da steht vor einem riesigen Rund voller Stühle ein kleines Wohnzimmer, eingericht­et mit Tisch, Sekretär, gemütliche­n Stühlen. Ein Zuhause in der Buchwelt.

Die österreich­ische Schriftste­llerin Eva Menasse richtet sich da gerade mit ihrem Roman „Dunkelblum“zum Gespräch mit Bärbel Schäfer ein, erzählt von einem ungeheuren Verbrechen während der Nazizeit und einem ebenso ungeheuren Schweigen. Etwas später sitzt dann auf dem gleichen Stuhl die

Wissenscha­ftsjournal­istin Mai Thi Nguyen-kim, vor sich ihr Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichke­it“, spricht über die „Diskussion­sklimakris­e“. Dann spricht Petra Gerstmann mit der Duden-redaktions­leiterin Kathrin Kunkelrazu­m übers Gendern. Titel: „Wie Sprache elegant für alle gelingt“. Man könnte einfach sitzen bleiben, sich erzählen lassen, was die Gesellscha­ft gerade so umtreibt. Die wichtigste Erzählung dieser Buchmesse ist aber vor allem diese: Wie sich eine Branche wieder in die Arme fällt. Abstand hin oder her.

„Es wirkt schon wieder wie Klassenfah­rt“, sagt Sarah Käsmayr vom Augsburger Maroverlag. Manche Kolleginne­n und Kollegen habe sie seit zwei Jahren nicht gesehen. Das sei schon ein großes Hallo. Wobei zur Geschichte der 73. Buchmesse auch zählt: Dass einige gekommen sind, die man nicht gerne willkommen heißt, andere deswegen ferngeblie­ben sind. Weil auch Verlage der Neuen Rechten einen Stand gebucht haben, hat die Autorin Jasmina Kuhnke, die ihren Debütroman „Schwarzes Herz“vorstellen wollte, ihren Auftritt abgesagt. Ihrem Beispiel folgten andere. Die Diskussion kennt man von früher. Gleichgebl­ieben ist auch der Standpunkt von Messe-direktor Boos: Im Zweifel immer für die Meinungsfr­eiheit. „Wir haben an allen Ecken und Enden Streiterei­en. Das gehört zur DNA der Buchmesse.“

Und was erzählt man nun also? Sarah Käsmayr zum Beispiel von einem harten Jahr, Existenzmi­nimum wie immer, in dem die Vorbestell­ungen durch die Buchhändle­r jedoch deutlich geringer ausgefalle­n sind. „Kann man ja verstehen“, sagt sie. „Wenn die Bücher hinterher verstauben.“Aber wie sollen dann die Leserinnen und Leser zum Beispiel

die neue Reihe „Maro Hefte“entdecken? Schön illustrier­te und fein gebundene dünne Bände, eines zum Thema nachhaltig­er Konsum mit dem wunderbare­n Titel: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabäll­chen“. „Das muss man schon in Händen halten und sehen, wie aufwendig es gemacht ist, um zu verstehen, warum 32 Seiten 16 oder 18 Euro kosten.“

Wovon Käsmayr auch erzählen kann und will: Dass zwei Projekte mit 70 Prozent über den staatliche­n Fördertopf „Neustart Kultur“gefördert worden sind, dass man im vorigen Jahr zum zweiten Mal mit dem Deutschen Verlagspre­is ausgezeich­net worden ist und eine Förderung von knapp 25000 Euro erhalten hat. „Das ist schon fantastisc­h.“Aber ein Stand bei der Buchmesse, den leistet man sich bei Maro auch in diesem Jahr nicht.

Andere Verlage haben reduziert, vor allem die großen. Etwa ein Viertel der einstigen Fläche nimmt der Hanser-stand in Halle 3.1. nun ein. Aber davor sitzt wie immer Pressespre­cherin Christina Knecht, gut gelaunt im Dauergespr­äch: „Hier so viele wiederzuse­hen, das ist eine große Freude.“Nur vier Autorinnen und Autoren bringt Hanser diesmal mit, sonst waren gerne drei Mal so viele oder mehr da. Aber würden hier alle lesen und erzählen, wäre es vor dem Stand wie immer voll. Dass einige Verlage unter diesen Bedingunge­n ferngeblie­ben sind – Knecht kann es nachvollzi­ehen.

Die Frage ist ja immer: Lohnt es sich wirtschaft­lich noch? Fürs Buch im Allgemeine­n aber geht die Rechnung in Frankfurt auf. „Während der Messe wird der Scheinwerf­er aufs Buch gerichtet, wenn das fehlt, ist es kühl“, sagt Knecht. Heute wie früher ist es in Frankfurt daher so: Nach ein paar Stunden stellt sich ein wunderbar sattes Gefühl ein, weil nichts den Kopf in kurzer Zeit so füllt wie eine Buchmesse. Nur muss man diesmal dafür nicht anstehen. Außer man will eine Wurst.

Einer sagt: Das ist hier ein bisschen wie ein Totentanz

Die Frage ist: Lohnt sich das wirtschaft­lich noch?

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Foto: Chris Emil Janssen, Imago Images Nein, das ist kein Bild von den Tagen des Messe‰aufbaus. Die Aufnahme entstand am Donnerstag mit Publikum – aber eben sehr überschaub­arem Publikum.
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