Die uneinigen Staaten von Europa
Hintergrund Merkels letzter Eu-gipfel ist von der gleichen Frage geprägt wie ihr erster: Was soll aus der Gemeinschaft werden?
Brüssel Angela Merkel hat in den letzten Monaten äußerst viele letzte Male als amtierende Kanzlerin erlebt. Ein letzter Besuch in Washington, Israel und Rom, eine letzte Reise nach Moskau, eine letzte Verneigung vor Königin Elizabeth II. Und nun könnte sie zum letzten Mal als Deutschlands Regierungschefin in Brüssel weilen. Am gestrigen Donnerstag begann ihr 107. Eu-gipfel und auch wenn Eu-ratspräsident Charles Michel für den Beginn der Sitzung eine Würdigung der Kanzlerin vorbereitet hatte, so friedlich wie die meisten ihrer anderen Abschiedstermine verlief der Auftakt des zweitägigen Treffens keineswegs. Denn wieder einmal steht die EU vor großen Baustellen, manche sprechen gar schon in dramatischer Weise von einer Existenzkrise.
Der erbitterte Streit zwischen Polen und der EU über die Unabhängigkeit der polnischen Justiz und den Vorrang des Eu-rechts vor nationalem Recht droht zu eskalieren – und überschattete den Gipfel. Die Fronten wurden bereits bei der Ankunft der Staatenlenker auf dem roten Teppich geklärt. Während die Vertreter aus den Niederlanden, Belgien und Luxemburg weiterhin auf einen harten Kurs gegenüber Warschau drängten, sprach Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban von einer „Hexenjagd“. Mögliche Sanktionen, mit denen Eukommissionschefin Ursula von der Leyen etwa diese Woche gedroht hat, bezeichnete der rechtskonservative Politiker als „lächerlich“.
Noch bevor die Gespräche hinter verschlossenen Türen begannen, setzte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki den Ton. Er klang, wie schon bei seiner Rede im Europäischen Parlament wenig versöhnlich. Sein Land werde „nicht unter dem Druck der Erpressung nachgeben“. Die Brüsseler Behörde hält in dem Machtkampf schon seit Monaten Gelder aus dem Corona-hilfsfonds in Höhe von 36 Milliarden Euro zurück. Die Stimmung war aufgeladen. Wie gewohnt versuchte sich Angela Merkel als Schlichterin und warb für den Dialog als Lösung. „Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Bestands der Europäischen Union“, sagte sie zwar. „Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen.“Eine Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof sei noch keine Lösung des Problems, wie Rechtsstaatlichkeit auch gelebt werden könne.
Die Staatengemeinschaft scheint vor einem Scheideweg zu stehen. Dabei entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, dass Merkel schon nach ihrem ersten Gipfeltreffen im Jahr 2005 resümierte, es gehe um „die Zukunft Europas“. 16 Jahre später diskutieren die mittlerweile 27 Staats- und Regierungschefs noch immer darüber, in welche Richtung sich die Gemeinschaft entwickeln soll. „Wie stellen sich die einzelnen Mitglieder die Europäische Union vor?“, laute die Frage, die es zu beantworten gebe, sagte Merkel gestern. Verfolge man das Ziel der „ever closer union“, also dass die Länder immer enger zusammenrücken? Oder wolle man mehr Nationalstaatlichkeit?
Das Problem dürfte auch bei diesem Oktober-gipfel nicht zu lösen sein. Und doch hat die Diskussion um Polen wieder grundsätzliche Fragen der Union aufgeworfen oder zurück an die Oberfläche gebracht. Dabei sollte es bei diesem Treffen offiziell eigentlich nicht um das Sorgenkind Polen gehen. Vielmehr standen neben Covid-19 und Migration die explodierenden Energiepreise in Europa ganz oben auf der Agenda. Die hohen Rechnungen für Erdgas, Heizöl, Benzin und Strom belasten vor allem Geringverdiener und Verbraucher in ärmeren Eustaaten. Doch nicht nur die Regierungen in Süd-, Ost- oder Mitteleuropa befürchten Energiearmut, soziale Spannungen und Proteste, wie bereits in Spanien gesehen. Noch haben die Staatenlenker die Bilder aus Frankreich im Kopf, als vor gut zwei Jahren die Gelbwesten-bewegung zu Demonstrationen im ganzen Land aufgerufen hatte. Auslöser damals war eine von Präsident Emmanuel Macron geplante höhere Besteuerung von Benzin, vor allem Diesel, um die Energiewende zu finanzieren. Während manche Länder tiefergreifende Maßnahmen auf Eu-ebene verlangen und beispielsweise das Anlegen gemeinsamer Gasvorräte wünschen, wie Spanien, oder eine Reform des europäischen Strommarkts fordern, wie Frankreich, plädierte Merkel dafür, „besonnen zu reagieren“. „Wir sollten den Markt nicht vollkommen ausschalten, sondern eher für mehr Markt sorgen“, so die Kanzlerin. Dazu könne man gegebenenfalls weitere soziale Stützungsmaßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel die Verbesserung des Wohngeldes.