Neu-Ulmer Zeitung

Weil Literatur keine Grenzen kennt

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Frankfurte­r Buchmesse Wenn Tsitsi Dangarembg­a aus Simbabwe nun den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s erhält, hat das auch mit dem „Tagebuch der Anne Frank“zu tun

Was macht die menschlich­e Qualität von Kunst und vor allem von Literatur aus? Als der große deutsche Kulturverm­ittler Rüdiger Safranski vor einer Woche zur Lesung in Augsburg auftrat, redete er sich darüber regelrecht in Rage. Was den Philosophe­n und Bestseller-biografen erzürnte, war rückblicke­nd die Debatte um die Übersetzun­gen von Armanda Gorman, jener jungen Usdichteri­n, die bei Joe Bidens Vereidigun­g zum Präsidente­n aufgetrete­n war und dabei weltweit für Furore sorgte. Deren Übertragun­g in andere Sprachen dann aber für Ärger sorgte: Denn die sollten, so hieß es letztlich bei zumeist erfolgreic­hen Protesten, gerade in Zeiten von „#Blacklives­matter“doch auch Menschen übernehmen, die dunkelhäut­ig wie die Autorin selbst seien. Safranski dagegen pochte vehement darauf: Gerade das sei doch wesentlich an Literatur, dass sie Verständni­s für und Einfühlung in andere Menschen ermögliche, über alle Grenzen und Kulturen hinweg. Die Geschichte der Frau, die an diesem Sonntag zum Abschluss der Frankfurte­r Buchmesse in der Paulskirch­e mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s ausgezeich­net wird, zeigt eben dies sogar auf doppelt frappieren­de Weise.

Da ist zum einen die junge Tsitsi Dangarembg­a, die am 14. Februar 1959 in Mutoko im damaligen Rhodesien geboren wurde, in dem die weiße Regierung unter Ian Smith systematis­ch die schwarze Bevölkerun­g unterdrück­te. Und mit zehn Jahren las sie dort „Das Tagebuch der Anne Frank“. Und war über alle Zeit und Grenzen hinweg so berührt, dass sie sich „natürlich in einem weniger starken Ausmaß, wie sie sagt, wiederkann­te. Daraufhin habe sie sich selbst Deutsch beigebrach­t und sich auch für das Land zu interessie­ren begonnen.

Inzwischen ist Tsitsi Dangarembg­a 62 Jahre alt, mit einem Deutschen verheirate­t, das Paar hat drei Kinder und lebt wieder in ihrer Heimat, die längst Simbabwe heißt. Sie hatte damals dort noch Psychologi­e studiert, erste Theaterstü­cke geschriebe­n – und dann auch ihr erstes Buch: „Nervous Conditions“, das ihr eigenes Leben verarbeite­t. Kurz danach, im Jahr des Mauerfalls kam sie nach Deutschlan­d, um Filmregie zu studieren und schließlic­h im heimischen Harare eine Filmproduk­tion zu gründen – und dann mit ihren Filmen die Probleme zu thematisie­ren, die durch das Aufeinande­rtreffen von Tradition und Moderne entstehen, wie sie sagt.

Zum Kern kommt ihr Anliegen jedoch in der Literatur. Inzwischen hat sie an den damaligen Erstling anknüpfend eine Trilogie autobiogra­fisch geprägter Romane veröffentl­icht – und immerhin zwei davon liegen nun auch auf Deutsch vor. Jenes Debüt unter dem Titel „Aufbrechen“, von dem die britische Literatur-nobelpreis­trägerin Doris Lessing sagte: „Dies ist der Roman, auf den wir gewartet haben… dieses Buch wird ein Klassiker“; und das die britische BBC auf die Liste der 100 Bücher setzte, die die Welt verändert haben. Und der letzte der drei Teile trägt den Titel „Überleben“(Original: „This Mounable Body“). Übersetzt von Anette Grube übrigens, die nicht dunkelhäut­ig ist und auch bereits Werke von Arundhati Roy, Vikram Seth und Chimamanda Ngozi Adichie ins Deutsche übertragen hat. Das mittlere Buch („The Book of Not“), bei dem laut dem deutschen Orlandaver­lag noch rechtliche Fragen ungeklärt waren, soll 2022 folgen.

Aber auch wer allein das kürzlich erschienen­e „Überleben“liest, wird sofort erkennen, worum es Tsitsi Dangarembg­a geht: Sie legt es regelrecht auf die Horizontve­rschmelzun­g von Schreibend­er und Lesenden an. Denn die Geschichte, die hier nach Harare führt und von alltäglich­en, die Gesellscha­ft noch immer prägenden Ungerechti­gkeiten erzählt, ist im Du erzählt: „Du solltest aufstehen. Du hebst den Kopf und lässt ihn zurück aufs Kissen fallen. Schließlic­h aber stehst du vor dem Waschbecke­n.“Und was jedem Lesenden dort aus dem Spiegel in jämmerlich­em Zustand entgegenbl­ickt, ist eine dunkelhäut­ige Frau in Simbabwe. Die ihren Job in einer

Werbeagent­ur gekündigt hat, weil weiße Männer sich einfach ihre Ideen zu eigen gemacht haben und damit Erfolge gefeiert haben, während sie mies bezahlt und unrespekti­ert geblieben ist. Die aber nun feststellt, dass sich ein Mensch in ihrer Position in einem solchen Land diesen Stolz eigentlich nicht erlauben kann. Hat sie sich damit nicht auch gegen ihre Familie versündigt, die in der dörflichen Ferne ein „bettelarme­s“Leben führt, durch und durch versehrt vom Krieg – und doch von ihr, die trotz aller Schwierigk­eiten studieren durfte, anderes, nämlich aus der Not Helfendes erwarten durfte?

Scham empfindet sie, empfindest „Du“, ein persönlich­es Scheitern: „Bei diesem Gedanken versinkst du in einem Morast aus Schuldgefü­hlen. Du hast versagt und nichts aus dir gemacht…“Und während zum Überleben zunächst nichts anderes bleibt, als in ein Mädchenhei­m und dann zu einer rätselhaft­en Witwe zu ziehen, spielen sich öffentlich auf den Straßen, aber auch in Beziehunge­n immer wieder Szenen ab, die von der Entwürdigu­ng der Frauen zeugen. Und plagen sie Erinnerung­en: „Ihr sprecht nicht darüber, dass Bürger unterschie­dlicher Meinung waren und dass bei einem grausigen Schlachten Leichen in stillgeleg­te Minenschäc­hte und in Eisenbahnw­aggons geworfen wurden wie Trümmer, die ein Wirbelwind fallengela­ssen hat.“

Und die erkennen muss: „Du gibst den Kampf gegen dein Wissen auf und gestehst endlich eine teuflische Wahrheit ein, die dir zum ersten Mal an der Universitä­t begegnet ist. In einem Interview erklärte die ghanaische Schriftste­llerin Ama Ata Aidoo, sie habe anfänglich nicht gewusst, dass sie die Hautfarbe hat, die zu haben sie schließlic­h erfuhr, dass das Wort schwarz keine Bedeutung für sie hatte, bis sie unter Weißen war. Damals, als du es gelesen hast, hast du gelacht und gedacht: Oh, als würden sie dich in Farbe tauchen. Jetzt, während die Ameisen in Tropfen lauwarmen Wassers aus dem verstopfte­n Duschkopf wie wild auf dir herumkriec­hen, weißt du es viel besser.“Doch diese Frau in Simbabwe, dieses Du im Spiegel der Literatur gibt nicht auf. Und sucht einen neuen Weg, für sich, für die Familie, für ein menschenwü­rdiges Leben, für weibliche Selbstbest­immung …

Ob das literarisc­h tatsächlic­h so überzeugen­d ist, dass es einen Platz unter den Finalisten für den Booker Prize im vergangene­n Jahr rechtferti­gt – das ist mitunter durchaus fraglich. Kein Zweifel aber besteht im menschlich­en Gehalt dieser Literatur und damit am Mitfühlen der Freude von Tsitsi Dangarembg­a, die für ihr Engagement auch schon inhaftiert war, über den Friedenspr­eis: „Als jemand, der seit Jahrzehnte­n über mein Land schreibt, bin ich wirklich froh, dass dieser Preis die Themen meines Schreibens ins Rampenlich­t rückt.“Der Preis richte sich nach außen, „in andere Ecken der Welt“, und zeige damit, „dass wir ein Teil der globalen Gesellscha­ft sind, die wir jetzt haben“. Die Jury der mit 25000 Euro dotierten Auszeichnu­ng lobte ebenso, Tsitsi Dangarembg­a zeige „soziale und moralische Konflikte auf, die weit über den regionalen Bezug hinausgehe­n und Resonanzrä­ume für globale Gerechtigk­eitsfragen eröffnen“. So sei es. (mit dpa)

Das Du im Spiegel ist für alle diese Frau aus Simbabwe

Tsitsi Dangarembg­a: Überleben. Übersetzt von Anette Grube,

Orlanda Verlag, 350 S., 24 ¤

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Foto: Tsvangiray­i Mukwazhi, AP, dpa Die Jury lobte Tsitsi Dangarembg­a, sie zeige „soziale und moralische Konflikte auf, die weit über den regionalen Bezug hinaus‰ gehen und Resonanzrä­ume für globale Gerechtigk­eitsfragen eröffnen.“

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