Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (53)

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UDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

nd dabei war es ein Zeitungsge­dicht“, sagte sie, ebenfalls im Unterhaltu­ngston.

„Es erschien zufällig in einer Zeitung“, erwiderte ich, „aber es hatte schon manchem Zeitschrif­tenredakte­ur vorgelegen.

Wir sprechen von Harris“, sagte ich zu Wolf Larsen. „Ach ja“, stimmte er zu. „Ich entsinne mich gut der ,Schmiede‘. Eine Fülle schöner Gefühle und ein allmächtig­er Glaube an menschlich­e Illusionen. Aber Herr van Weyden, Sie sollten sich lieber nach Köchlein umsehen. Er klagt und ist unruhig.“

So wurde ich auf recht derbe Weise von der Achterhütt­e weggeschic­kt, und nur, um Mugridge in tiefem Schlummer zu finden nach dem Morphium, das ich ihm gegeben hatte. Ich beeilte mich nicht, wieder an Deck zu kommen, als ich es aber schließlic­h tat, sah ich zu meiner Freude Fräulein Brewster in angeregter Unterhaltu­ng mit Wolf Larsen. Wie gesagt, freute ich mich über diesen Anblick. Sie befolgte

also meinen Rat. Und doch durchzuckt­e mich ein leichter Schmerz, als ich sah, daß sie tat, um was ich sie gebeten, und was sie vorhin mit Abscheu von sich gewiesen hatte.

Günstige Winde trieben die ,Ghost‘ schnell nordwärts in die Robbengrün­de. Wir trafen die Herden auf dem 44. Breitengra­d in einer rauhen, stürmische­n See, über die der Wind die Nebelbänke in wilder Flucht hetzte. Tagelang konnten wir nicht die Sonne sehen und Beobachtun­gen machen. Dann aber fegte der Wind die Oberfläche des Ozeans rein, die Wellen kräuselten sich schimmernd, und wir konnten feststelle­n, wo wir waren. Ein klarer Tag, auch drei oder vier konnten folgen, dann senkte sich der Nebel wieder auf uns herab, anscheinen­d dichter als je.

Die Jagd war gefährlich, aber dennoch wurden die Boote Tag für Tag hinunterge­lassen, von der grauen Finsternis verschlung­en und erst bei herabsinke­nder Nacht, ja oft erst viel später wiedergese­hen. Wie Seegespens­ter huschten sie dann eines nach dem andern aus dem Grau hervor. Wainwright – der Jäger, den Wolf Larsen mit Boot und Mannschaft gestohlen hatte – benutzte den Nebel, um zu entwischen. Er verschwand eines Morgens mit seinen beiden Leuten in den kreisenden Schwaden, und wir sahen sie nie wieder. Nach einigen Tagen erfuhren wir jedoch, daß sie von einem Schoner zum andern gegangen waren, bis sie endlich ihren eigenen wiedergefu­nden hatten. Das hatte ich selbst schon längst tun wollen, aber es bot sich mir nie eine Gelegenhei­t. Es war nicht Sache des Steuermann­s, mit in die Boote zu gehen, und welche List ich auch anwandte, gab Wolf Larsen mir doch nie die Erlaubnis dazu. Hätte er es getan, so würde ich irgendwie versucht haben, Fräulein Brewster mitzunehme­n. Näherten sich die Dinge doch einem Stadium, an das zu denken mir Grauen einflößte. Ich wollte nicht daran denken, aber immer wieder erhob sich der Gedanke wie ein Spukgespen­st in meinem Kopfe und wich nicht.

Ich hatte früher Seegeschic­hten gelesen, in denen die einsame Frau unter einer Schar von Männern als das natürlichs­te von der Welt vorkam; jetzt aber erfuhr ich, daß ich nie die tiefere Bedeutung dieser Situation erfaßt hatte. Und hier stand ich dieser Situation nun Angesicht zu Angesicht gegenüber. Um sie so lebendig wie möglich zu gestalten, brauchte es nur, daß die Frau Maud Brewster war.

Kein größerer Gegensatz als der zwischen ihr und ihrer Umgebung hätte je ersonnen werden können. Sie war zart und ätherisch, geschmeidi­g und mit leichten, anmutigen Bewegungen. Ich hatte nie das Gefühl, als ob sie schritte, oder es doch wenigstens nach Art gewöhnlich­er Sterbliche­r täte. Eine seltene Leichtigke­it lag über ihr, und sie bewegte sich mit einer unbeschrei­blichen Anmut. Näherte sie sich einem, so geschah es wie ein Vogel, der auf geräuschlo­sen Schwingen hernieders­chwebte.

Sie war wie ein Gegenstand aus Meißener Porzellan, und ich wurde immer wieder betroffen von einem Eindruck von Zerbrechli­chkeit, den sie auf mich machte. Wie damals, als ich ihren Arm ergriffen hatte, um ihr die Kajütstrep­pe hinunter zu helfen, war ich jederzeit darauf vorbereite­t, sie zerbrechen zu sehen, falls sie zu hart angepackt würde. Nie habe ich eine solche Harmonie zwischen Körper und Geist gesehen. Ihr Körper schien ein Teil ihrer Seele zu sein, schien die gleichen Eigenschaf­ten zu besitzen und an das Leben nur durch die zartesten Ketten gefesselt zu sein. In der Tat: sie trat leicht über diese Erde, und nur ein Geringes von grobem Staube haftete ihr an.

Wolf Larsen bildete einen schreiende­n Gegensatz zu ihr. Ich beobachtet­e sie, wie sie eines Morgens zusammen über das Deck schritten, und ich verglich sie als die äußersten Endpunkte der menschlich­en Entwicklun­g – er der Höhepunkt aller Barbarei, sie das vollendets­te Produkt höchster Zivilisati­on. Wahrlich: Wolf Larsen besaß einen ungewöhnli­chen Intellekt, aber er benutzte ihn einzig im Dienste seiner wilden Instinkte, was ihn nur um so schrecklic­her und wilder machte. Er besaß prachtvoll­e Muskeln und war athletisch gebaut, aber obwohl er fest und bestimmt auftrat, haftete seinem Schritt keine Schwere an. An Dschungel und Wildnis gemahnten Heben und Senken seines Fußes. Geschmeidi­g und stark – vor allem stark – war sein Gang wie der einer Katze. Er glich einem großen Tiger, einem tapferen Raubtier. So wirkte er, und in seinen Augen leuchtete zeitweise derselbe durchdring­ende Glanz auf, den ich in denen eingesperr­ter Leoparden oder anderer beutesuche­nder Geschöpfe der Wildnis in ihren Käfigen gesehen hatte. Sie kamen in die Nähe der Kajütskapp­e, wo ich stand. Obgleich sie es durch kein äußeres Zeichen verriet, spürte ich doch, daß sie sich in großer Erregung befand. Sie machte irgendeine nichtssage­nde Bemerkung, blickte mich an und lachte unbekümmer­t, dann aber sah ich, wie ihre Augen unwillkürl­ich, wie fasziniert, die seinen suchten; sie senkte sie wieder, aber doch nicht schnell genug, um das Entsetzen, das in ihnen geschriebe­n stand, zu verbergen.

In seinen Augen sah ich die Ursache ihrer Erregung. Sonst grau, kalt und hart, waren sie jetzt warm, sanft und golden, und es tanzten in ihnen winzige Lichter, die erloschen und schwanden, aber wieder aufflammte­n, bis sie die Augen ganz mit einem glühenden Leuchten erfüllten. Vielleicht verursacht­en sie den goldenen Schein. Jedenfalls waren seine Augen golden, verführeri­sch und herrisch, lockend und zwingend und verliehen einem Befehl, einem Schrei des Blutes Ausdruck, den kein Weib, am wenigsten Maud Brewster, mißversteh­en konnte.

Ihre Angst steckte mich an, und in diesem Augenblick der Furcht – der entsetzlic­hsten Furcht, die ein Mann fühlen kann, wußte ich, daß sie mir unsäglich teuer war. Das Bewußtsein, daß ich sie liebte, überkam mich gleichzeit­ig mit der Angst, und beide Gefühle umkrallten mein Herz und ließen mein Blut gefrieren und zugleich aufrühreri­sch wallen. »54. Fortsetzun­g folgt

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