Aus dem Rollstuhl auf den Kilimandscharo
Porträt Nach einem schweren Gleitschirmunfall ist der Bergsteiger Thomas Lämmle teilweise gelähmt. Dann setzt er sich ein Ziel: Er will noch einmal auf den höchsten Berg Afrikas. Die Ärzte machen ihm wenig Hoffnung. Aber es gibt ja noch kleine Wunder
Moshi Viele Wege führen auf den Gipfel des Kilimandscharos. Der einfachste ist wohl die Lemoshoroute. Sie führt am sechsten von acht Tagen durch die Barranco Wall. Einer Wand, bei der man ein wenig kraxeln muss. Für erfahrene Bergsteiger jedenfalls nicht der Rede wert. Aber für den Extremsportler Thomas Lämmle, der mehrere 8000er ohne zusätzlichen Sauerstoff bezwungen hat, ist der Abschnitt neuerdings eine besondere Herausforderung. Denn im Gegensatz zu seinen früheren 62 Aufstiegen auf das mit 5895 Metern höchste Bergmassiv Afrikas ist er nun auf Krücken angewiesen.
Aber man muss es so sehen: Dieses 63. Mal hier unter der Sonne Tansanias ist ohnehin ein kleines Wunder.
Seit einem Gleitschirmunfall im Frühjahr 2020 ist Lämmles linkes Bein gelähmt. Seinen linken Fuß kann er seither gar nicht mehr bewegen. Er spürt nichts, auch nicht die offene, aufgeriebene Blase an der Fußsohle, die normalerweise höllisch schmerzen müsste. Und weil Lämmle den Fuß nicht mehr richtig ansteuern kann, konnte er im Vorfeld dieses Abenteuers auch keine Kraft im linken Bein aufbauen.
Aber genau die bräuchte er jetzt dringend. Weil die nächste Kletterpassage verlangt, dass er das schwache Bein aufstellt und sich damit nach oben drückt. Eigentlich ein Klacks. Allerdings nicht mehr für ihn, der monatelang an einen Rollstuhl gefesselt war und mittlerweile einen Behindertenausweis besitzt.
Lämmle, der 55-Jährige aus Waldburg bei Ravensburg, schiebt seine beiden Krücken in den Schultergurt seines Rucksacks hinter sich, um die Hände frei zu haben. Dann setzt er den linken Fuß auf einen Felsvorsprung und testet, ob dieser sicher steht. Mit den Händen sucht er nach zwei passenden Griffen. Er versucht, sich hochzudrücken, aber es will ihm nicht gelingen.
Hinter seinem Rücken bildet sich bereits eine Schlange aus wartenden Trägern. Lämmle lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und tastet weiter nach einem besseren Halt, dreht den Körper mal nach links, mal nach rechts, bis er eine Position findet, mit der es klappen könnte. Er packt zu, wuchtet sich mit den Armen nach oben und setzt den rechten Fuß auf die nächste Schwelle. Geschafft. Ein Schritt weiter in Richtung Gipfel.
Wie einfach diese kurze Stelle in Wirklichkeit ist, demonstrieren die Träger, die ihren Weg nun fortsetzen können. Mit 20 Kilo schwerer
Last auf dem Rücken und dem Kopf steigen sie durch die Stelle, als wäre es eine Treppe.
In Momenten wie diesen muss Lämmle um Fassung ringen. „Gestern Abend kam mir der Gedanke: Auf der einen Seite ist es cool, wenn ich das jetzt schaffe. Auf der anderen Seite ist es natürlich ziemlich ernüchternd zu sehen, wenn du für das, was du früher in einer Stunde gelaufen bist, jetzt vier Stunden brauchst“, sagt er wenige Minuten später bei einer Verschnaufpause. „Da wird dir auch wieder bewusst, dass du eigentlich behindert bist. Das zieht mich dann auch runter.“
Dass dies frustriert, ist nachvollziehbar. Aber die Frage, die sich stellt, ist doch: Wo setzt Lämmle den Maßstab an? An den Mount Everest oder an den Rollstuhl?
„Genau darum geht es“, sagt Lämmle. „Das Bergsteigen hier war mein Leben. Da bin ich zwei-, dreimal im Jahr zum Kilimandscharo gekommen und bin in jeder Nacht auf den Gipfel gestiegen, also sechsmal pro Tour. Und in dieses alte Leben schwappe ich mit meinen Gedanken immer wieder rein. Das tut mir dann auch weh.“Er blickt auf den Gipfel, der in seinem Rücken auf ihn zu warten scheint. „Aber man muss schauen, woher ich komme. Ich komme vom Rollstuhl. Und für einen Rollstuhlfahrer ist das schon eine coole Aktion.“
Die Bilder aus dem Krankenhaus trägt er immer bei sich auf dem Handy. Und wenn es ihn herunterzieht, dann schaut er sich die Fotos an, um sich vor Augen zu führen, dass er Grund zur Freude hat.
Dass sein Aufstieg durchaus eine Sensation ist, sieht auch die Ärztin so, die ihn durch die Reha begleitet hat. „Aus medizinischer Sicht ist das ein kleines Wunder, was mit seinem Fuß geschehen ist“, sagt Orsolya Imre, in der Argentalklinik in Isny Oberärztin für Innere Medizin und Rheumatologie. „Aber wer Herrn Lämmle kennt, den wundert es auch wieder nicht allzu sehr.“Sie hat ihm damals, als er auf den Rollstuhl angewiesen war, empfohlen, den Ärzten erst einmal nichts zu glauben. Selbst wenn die Situation aussichtslos erschien. Ein Ratschlag aus dem Mund einer Ärztin.
23. April 2020. Es hätte ein normaler Trainingsflug vom Hochgrat im Oberallgäu werden sollen. Aber an diesem Donnerstag verquatscht sich Lämmle mit zwei Fliegern und der Wind dreht unbemerkt. Kurz nach seinem Start, in etwa 20 Metern Höhe, drückt ein Windstoß die rechte Seite seines Gleitschirms ein. Lämmle wird in einer Spirale mit voller Wucht auf den Boden geschleudert. Sein Becken wird beim Aufprall gesprengt, sein Kreuzbein zertrümmert, er verliert vier Liter Blut. Die Ärzte können ihn in einer stundenlangen Operation vor dem Tod bewahren. Aber als er wieder zu sich kommt, spürt er seine Beine
mehr. Der Verdacht besteht, dass er querschnittsgelähmt ist.
Ans Bett gefesselt, hat er viel Zeit, um sich Gedanken zu machen. Wie geht es weiter? Es sind schwere Tage und Wochen für seine Frau und die sechs Kinder, die ihn wegen Corona nicht mal in der Klinik besuchen dürfen. „Die Familie ist viel zu kurz gekommen in meinem Leben“, sagt er heute. Deshalb betrachtet er den Unfall auch als eine Art Glücksfall – als zweite Chance. Denn sein eigentliches Ziel sei es damals gewesen, mit dem Gleitschirm von einem 8000er zu springen, was geradezu lebensmüde ist. „Wenn ich zurückblicke“, sagt Lämmle, „war ich damals völlig wahnsinnig. Und ich glaube, der Unfall hat mir tatsächlich das Leben gerettet.“
Aber nicht nur über sein eigenes Leben macht sich Lämmle Gedanken, sondern auch darüber, wie es weitergehen soll mit den Freunden in Tansania, wo Lämmle im Laufe der Zeit eine kleine Non-profitagentur aufgebaut hat, die Bergtouren rund um den Kilimandscharo organisiert. „Extrek Africa ist für mich Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt Lämmle. „Ein bisschen meine eigene Entwicklungshilfe.“Alle Gewinne kommen den Führern, Köchen und Trägern zugute.
Allerdings lässt Corona den Tourismus am Kilimandscharo vollständig einbrechen. Keine Arbeit bedeutet in Tansania: kein Essen. Lämmle will helfen und startet im Krankenhausbett mit seinem Handy einen Spendenaufruf. Das Geld, das zusammenkommt, reicht aus, um 50 Familien mit dem Nötigsten zu versorgen. Es reicht außerdem, um Land zu kaufen und Obst und Gemüse anzubauen, um es auf dem Markt zu verkaufen.
Wann Lämmle wieder nach Tansania reisen kann, ist da noch ungewiss. Verlassen kann er das Krankenhaus nur im Rollstuhl. Möglinicht cherweise, sagen die Ärzte, wird er nie mehr laufen können. „Damals galt ich als austherapiert“, erinnert sich Lämmle. „Aber genau das, sagte mir die Ärztin in der Reha, sollte ich eben erst mal nicht glauben.“Lämmle ringt mit sich um den Sinn des Lebens: Wenn er nicht mehr auf Berge steigen kann, was ist das Leben dann noch wert?
Untersuchungen zeigen, dass sein Rückenmark nicht durchtrennt ist. Im Rollstuhl also sitzen zu bleiben, kann Lämmle nicht akzeptieren. Er fängt an, das zu tun, was er sein ganzes Leben lang getan hat: Er trainiert. In der Reha muss sein Gehirn das Laufen neu lernen, wie man einen Fuß vor den anderen stellt.
Dann meldet sich ein Fuß mit Schmerzen zurück. Ein Hoffnungsschimmer.
Lämmle trainiert weiter und weiter. So lange, bis er im Herbst 2020 auf wackligen Armen, knarzenden Krücken und nur einem voll funktionsfähigen Bein den nur 30 Meter hohen Kohlenberg in seinem Heimatort Waldburg besteigen kann. Was früher zwei Minuten dauerte, verlangt ihm jetzt zwei Stunden ab. Aber er schafft es bis nach oben. Noch ein Hoffnungsschimmer.
Er setzt sich ein ambitionierteres Ziel: wieder auf den Kilimandscharo, den er eben schon 62 Mal bestiegen hat. „Und wenn das nur mit Krücken geht, dann ist das eben so.“So kommt es, dass Lämmle keine anderthalb Jahre nach dem Unfall in der Barranco Wall klettert. Auf den Krücken hat er da bereits mehr als 60 Kilometer Strecke und 3000 Höhenmeter zurückgelegt. Woher er die Motivation und die Kraft schöpft? „Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so richtig“, sagt Lämmle. „Wenn ich was will, kann ich mich jedenfalls wahnsinnig motivieren und auch Kräfte mobilisieren. Im Krankenhaus war mir klar, dass ich auf den Kilimandscharo will. Und das ist jetzt auch ungeheuer wichtig für mich und für meine Psyche.“
„Es macht viel aus, was im Kopf passiert“, bestätigt Ärztin Orsolya Imre. „Das versuchen wir den Patienten in der Reha zu vermitteln: Man darf den Glauben nie verlieren. Wenn man nichts erreichen möchte, dann erreicht man nichts. Herr Lämmle wollte einfach wieder den Gipfel erreichen. Ich bin stolz auf ihn, aber für das Wunder muss er sich bei sich selbst bedanken.“
Um 7.38 Uhr Ortszeit erreicht Thomas Lämmle mit einem gelähmten Bein und zwei knarzenden Krücken das Gipfelschild des 5895 Meter hohen Uhuru Peaks. Er wirft seine Krücken beiseite, klettert ungelenk auf das Schild, jubelt und sagt mit brüchiger Stimme: „Die Einzige, die vor anderthalb Jahren daran geglaubt hat, dass ich wieder laufen kann, das war meine Frau. Die hat mir im Krankenhaus gesagt: ‚Du wirst wieder gehen können.‘“
Viereinhalbtausend Höhenmeter weiter unten und drei Tage später erreicht Lämmle den zweiten Höhepunkt seiner Tansania-reise. Dieses Mal steht er jedoch auf keinem Gipfel, sondern auf einem gepflegten grünen Rasen inmitten zwei trockener Maisfelder und einem kleinen Haus daneben. Drum herum eine Handvoll ärmlicher Bauernhöfe.
Lämmle inspiziert das kleine Stück Land genau und ist gerührt. Obwohl es sein Eigen ist, sieht er es zum ersten Mal. Er hängt ein orangefarbenes Kunststoffplakat an die Wand des Hauses. Darauf befinden sich Name, Logo und Slogan von Extrek Africa und jetzt auch das, was Lämmle mit einem dicken Filzstift draufschreibt: „Extrek-farm“.
Das ist es also, Lämmles neues Projekt. Bald will er das Land nebenan kaufen und erweitern. Sein nächstes Ziel ist es, eine Ferienanlage zu errichten, die dann allen Extrek-beschäftigten den Lebensunterhalt sichert.