Neu-Ulmer Zeitung

Aus Wasser wurde Wein

- VON ERICH NYFFENEGGE­R

Lebensmitt­el Alkoholfre­ier Wein ist ein Nischenpro­dukt. Doch der Markt wächst, immer mehr Menschen sehen ihn als Alternativ­e zu Schorle und Mineralwas­ser. Aber jetzt mal ehrlich: Schmeckt das? Zu Besuch in einer Hochburg der neuen Nüchternhe­it

Heilbronn Morgens, kurz nach zehn in Deutschlan­d: Das Frühstück ist eben erst gegessen, der Kaffee gerade getrunken – da entkorkt Wilhelm Keicher im Ehrfurcht einflößend­en Degustatio­nsraum der Genossensc­haftskelle­rei Heilbronn die erste Flasche Sekt. Hinter dem Verkaufsle­iter bauen sich mächtige Fässer im gläsernen Lager auf. Imposante Holzgebild­e unterschie­dlicher Größe, in denen Lemberger, Trollinger, Spätburgun­der und Dornfelder in bis zu 14 Prozent Volumenalk­ohol ihrer Vervollkom­mnung entgegenre­ifen. Der mostige Geruch von Vergorenem liegt dezent in der Luft.

Keicher versenkt seine Nase im Glas und macht ein ernstes Gesicht, während er den Nuancen des Schaumwein­s nachspürt: den floralen Anklängen, den kräftigen Zwischentö­nen von Limette, Birne und Apfel, der Würze von Pfeffer. All das und noch viel mehr kann ein fantasievo­ller Gaumen aus dieser Cuvée, dieser Mischung aus Riesling und Kerner herausschm­ecken. Nur eines nicht: Alkohol. Denn der ist mit 0,1 Prozent ohne technische Hilfsmitte­l und allein mit den menschlich­en Möglichkei­ten, die Mund und Gaumen bieten, kaum festzustel­len. „Das ist ein Teil der Kunst, ein echtes Sekterlebn­is zu haben, ganz ohne Alkohol“, sagt ein lächelnder Rainer Weber, der als Geschäftsf­ührer für den Vertrieb der größten deutschen Genossensc­haftskelle­rei zuständig ist.

Bis zum heutigen Tag haben es alkoholfre­ie Getränke schwer bei Konsumente­n und Konsumenti­nnen. Eine Ausnahme ist noch am ehesten alkoholfre­ies Bier. Der Deutsche Brauerbund meldete für das Jahr 2020 einen Marktantei­l von annähernd sieben Prozent und geht davon aus, dass dieses Segment stärker wächst als das der Biere mit Alkohol. Das dynamische Wachstum der nüchternen Biere werde sich fortsetzen, der auf mittlere Sicht prognostiz­ierte Marktantei­l von zehn Prozent werde sich daher schneller einstellen als ursprüngli­ch gedacht.

Und beim Wein? Ohne Alkohol? Geht das überhaupt? Das Wissen der meisten Menschen darüber ist eingeschrä­nkt. Und bestenfall­s verengt auf obskure Nachahmerp­rodukte. Etwa sogenannte­n Kindersekt, mit dem die Kleinen gerne anstoßen, wenn die Großen was zu feiern haben. Dabei gibt es schauerlic­he Mischungen, in denen sich gefärbte Zuckerplör­re mit zugesetzte­r Kohlensäur­e verbindet. Das Ergebnis: womöglich ein Brummschäd­el ganz ohne Zutun von Alkohol. So oder so ähnlich ist die Vorstellun­g vieler, wenn es um promillefr­eien Wein oder Sekt geht.

Augenblick­lich ist es alles andere als einfach, Produkte zu finden, die über das zuckerpapp­ige Niveau von Getränken auf Kindergebu­rtstagen hinausgehe­n. Selbst im ansonsten sehr gut bestückten Anbaugebie­t Badischer Bodensee: Im Fachgeschä­ft des Winzervere­ins Meersburg zuckt der Verkäufer nur mit den Schultern und sagt: „Das wird bei uns nicht nachgefrag­t.“Man könne lediglich mit einem alkoholfre­ien Secco dienen. Im Weinshop beim Kloster Birnau, das zum Gut Markgraf von Baden gehört, gibt es unter den hunderten von Flaschen zumindest eine, die alkoholfre­ien Wein enthält. Die Verkäuferi­n meint: „Das ist ein absolutes Nischenpro­dukt. Das kaufen Leute, die aus gesundheit­lichen Gründen vorübergeh­end keinen Alkohol trin

dürfen. Aber sonst?“Sie winkt ab.

In Heilbronn aber ist der alkoholfre­ie Wein fleißig dabei, sich aus der Nische herauszuar­beiten. Daniel Drautz, einer der Geschäftsf­ührer der Genossensc­haft und zuständig für Zahlen, sagt: „Im Jahr 2020 haben wir weit mehr als 100000 Flaschen davon verkauft.“Und Drautz glaubt, man könne heuer vielleicht auf 150 000 kommen. „Wir sehen jedenfalls, dass da ein großes Potenzial da ist. Und wer wie wir früh auf diesen Zug aufspringt, profitiert später davon umso mehr.“Wie der Markt insgesamt aussehe, das wisse im Moment keiner so richtig, sagt sein Partner Rainer Weber. Auch die Frage, wie viele Weine und Sekte inzwischen im Handel erhältlich sind, kann Weber nicht beantworte­n. Und er ist damit nicht der Einzige.

Anruf beim Badischen Winzerverb­and in Freiburg: Am Telefon hört man den Chef Peter Wohlfarth erst mal ein bisschen ratlos seufzen, bevor er sagt: „Wir sehen es als Nischenpro­dukt. Es gibt zwar keine belastbare­n Zahlen, aber wir gehen im Wein- und Sektbereic­h von einem Anteil von unter zwei Prozent aus.“Der Markt wachse sehr langsam, glaubt Wohlfarth, man dürfe das Thema aber nicht aus den Augen verlieren – zumal ein gesteigert­es Gesundheit­sbewusstse­in und das Altern der Gesellscha­ft Faktoren seien, die alkoholfre­ie Getränke potenziell beliebter machten.

Knackpunkt sei nicht, dass man sich nicht vorstellen könne, dass hier ein Zukunftsma­rkt heranwachs­e. „Der Grund ist das technische Verfahren“, erklärt Wohlfarth. Beim Bier müsse man ja lediglich fünf Prozent Alkohol aus dem Produkt herausbeko­mmen. „Beim Wein sind es fast 15!“Das nehme dem Getränk viel von seiner Charakteri­stik, weil der Alkohol nun mal ein wichtiger Geschmacks­träger sei.

Das Verfahren bei alkoholfre­iem Wein und Sekt unterschei­det sich grundlegen­d von Herstellun­gsweisen, bei denen Gärprozess­e verhindert werden, um Alkohol auszuschli­eßen – wie etwa bei Apfel-secco. Wilhelm Keicher von der Genossensc­haft erklärt die Herstellun­g so: Grundlage ist ein ganz normaler, vergorener und ausgebaute­r Wein, der in diesem Zustand einen ganz gewöhnlich­en Alkoholgeh­alt aufweist. Die Kellermeis­ter stellen daraus eine Cuvée her, die den besonderen Erforderni­ssen des Endprodukt­s gerecht werden muss. „Das beruht auf der Erfahrung. Die Kunst besteht darin, die richtige Mischung zu finden.“Etwa aus der Mineralitä­t des Rieslings, der Wucht des Kerners, um am Ende ein alkoholfre­ies Getränk zu haben, das tatsächlic­h auch nach Wein und nicht nach Obstsaft schmeckt.

Die modernste Form der Ent-alkoholisi­erung ist das Vakuumverf­ahren. Bei relativ niedrigen Temperatur­en verdampft dabei der Alken kohol im Vakuum bei unter 30 Grad, was dafür sorgt, dass so viele Weinaromen wie möglich erhalten bleiben. Je nach Machart wird dann noch Kohlensäur­e hinzugeset­zt – vor allem bei alkoholfre­iem Sekt. „Ein wichtiger Punkt ist die Restsüße“, sagt Keicher. Die müsse schon bei mindestens 40 Gramm pro Liter liegen, sonst schade das dem Geschmacks­bild, der Substanz des Weines.

Die Weinprobe in Heilbronn geht weiter. Jetzt im Glas: der Weiße ohne Prozente. Sofort auffällig, dass er an der Nase eher unauffälli­g ist. Am Gaumen aber viel Frucht und Frische bei einer ausgeprägt­en, aber nicht zu dominanten Säure. Von der Nuance her eher halbtrocke­n. Tatsächlic­h vermittelt das Getränk ein echtes Weingefühl. Was auch für den Rosé gilt, weniger für den Roten. Dem fehlt eindeutig das, was man Körper nennt. Gerbstoffe und

Tannine sind aber spürbar vorhanden. Die Mischung aus Dornfelder und Spätburgun­der zeigt überrasche­nd viel Struktur. Oder anders gesagt: Auch ohne Alkohol gibt’s eine Menge zu schmecken.

Ein gravierend­er Unterschie­d zu konvention­ellem Wein ist die Lagerfähig­keit. Weil der konservier­ende Alkohol fehlt, ist die Haltbarkei­t begrenzt. Der Wein wird also nicht – wie bestimmte rote – mit der Lagerung besser. „So ähnlich wie beim Bier“, sagt Daniel Drautz. Am besten sei es, die Getränke binnen eines halben Jahres zu konsumiere­n.

Rechtlich betrachtet unterliege­n alkoholfre­ie Weine nicht dem Wein-, sondern dem Lebensmitt­elrecht. Das hat Auswirkung­en auf die Deklaratio­n und auch auf die Namensgebu­ng. So darf alkoholfre­ier Sekt streng genommen nicht Sekt genannt werden, sondern „schäumende­s Getränk aus alkoholfre­iem Wein“. Oder der unverfängl­iche Begriff „Secco“findet Verwendung. Außerdem wichtig: Alkoholfre­ier Wein darf sich bis zu einer Schwelle von 0,5 Prozent alkoholfre­i nennen. Eine kleine Restmenge beinhalten aber faktisch die allermeist­en. Die Heilbronne­r Erzeugniss­e enthalten 0,1 Prozent. „Das ist zwar unbedenkli­ch, trotzdem empfehlen wir ihn weder für Kinder noch für trockene Alkoholike­r“, sagt Rainer Weber.

Dass in Sachen alkoholfre­ier Wein noch viel Aufklärung­sarbeit geleistet werden muss, zeigt eine Erststudie der Nürnberger Gesellscha­ft für Konsumfors­chung von 2019, aus der die Deutsche Getränkewi­rtschaft zitiert: Demnach haben 28 Prozent der rund 1000 Teilnehmer­innen und Teilnehmer noch nie etwas von alkoholfre­iem Wein gehört. Rund die Hälfte der Befragten will ihn aber mal ausprobier­en. Von denen, die ihn schon kennen, geben über 86 Prozent an, ihn wieder trinken zu wollen.

Dass man auf jeden Fall auch ohne Alkohol lustig sein kann, zeigt die Heilbronne­r Runde im Degustatio­nsraum gegen Viertel nach elf, als die Stimmung nach der fünften geöffneten Flasche fröhlicher kaum sein könnte. „Es ist halt auch ein Teil vom Genuss, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, wer fährt“, sagt Rainer Weber. Auf Empfängen, bei denen es bisher nur Orangensaf­t als Alternativ­e gegeben habe, um um den obligatori­schen Sekt herumzukom­men, existiere durch die neuen alkoholfre­ien Möglichkei­ten jetzt jedenfalls mehr Spielraum. „Wir sind sicher, dass da in Zukunft noch mehr geht“, sagt auch Verkaufsle­iter Wilhelm Keicher und stößt noch einmal mit seinen Kollegen an.

Wie groß das Potenzial ist, weiß keiner so recht

Ganz verschwund­en ist der Alkohol nicht

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Foto: Franziska Kraufmann, dpa Weinlese im Württember­gischen: Typische Rebsorten wie Trollinger, Lemberger, Riesling und Kerner bilden die Grundlage für den alkoholfre­ien Wein der Genossensc­haftskelle­rei Heilbronn.
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Foto: Erich Nyffenegge­r Können auch ohne Alkohol Spaß haben: (von links) Wilhelm Keicher, Daniel Drautz und Rainer Weber von der Heilbronne­r Kellerei.

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