Aus Wasser wurde Wein
Lebensmittel Alkoholfreier Wein ist ein Nischenprodukt. Doch der Markt wächst, immer mehr Menschen sehen ihn als Alternative zu Schorle und Mineralwasser. Aber jetzt mal ehrlich: Schmeckt das? Zu Besuch in einer Hochburg der neuen Nüchternheit
Heilbronn Morgens, kurz nach zehn in Deutschland: Das Frühstück ist eben erst gegessen, der Kaffee gerade getrunken – da entkorkt Wilhelm Keicher im Ehrfurcht einflößenden Degustationsraum der Genossenschaftskellerei Heilbronn die erste Flasche Sekt. Hinter dem Verkaufsleiter bauen sich mächtige Fässer im gläsernen Lager auf. Imposante Holzgebilde unterschiedlicher Größe, in denen Lemberger, Trollinger, Spätburgunder und Dornfelder in bis zu 14 Prozent Volumenalkohol ihrer Vervollkommnung entgegenreifen. Der mostige Geruch von Vergorenem liegt dezent in der Luft.
Keicher versenkt seine Nase im Glas und macht ein ernstes Gesicht, während er den Nuancen des Schaumweins nachspürt: den floralen Anklängen, den kräftigen Zwischentönen von Limette, Birne und Apfel, der Würze von Pfeffer. All das und noch viel mehr kann ein fantasievoller Gaumen aus dieser Cuvée, dieser Mischung aus Riesling und Kerner herausschmecken. Nur eines nicht: Alkohol. Denn der ist mit 0,1 Prozent ohne technische Hilfsmittel und allein mit den menschlichen Möglichkeiten, die Mund und Gaumen bieten, kaum festzustellen. „Das ist ein Teil der Kunst, ein echtes Sekterlebnis zu haben, ganz ohne Alkohol“, sagt ein lächelnder Rainer Weber, der als Geschäftsführer für den Vertrieb der größten deutschen Genossenschaftskellerei zuständig ist.
Bis zum heutigen Tag haben es alkoholfreie Getränke schwer bei Konsumenten und Konsumentinnen. Eine Ausnahme ist noch am ehesten alkoholfreies Bier. Der Deutsche Brauerbund meldete für das Jahr 2020 einen Marktanteil von annähernd sieben Prozent und geht davon aus, dass dieses Segment stärker wächst als das der Biere mit Alkohol. Das dynamische Wachstum der nüchternen Biere werde sich fortsetzen, der auf mittlere Sicht prognostizierte Marktanteil von zehn Prozent werde sich daher schneller einstellen als ursprünglich gedacht.
Und beim Wein? Ohne Alkohol? Geht das überhaupt? Das Wissen der meisten Menschen darüber ist eingeschränkt. Und bestenfalls verengt auf obskure Nachahmerprodukte. Etwa sogenannten Kindersekt, mit dem die Kleinen gerne anstoßen, wenn die Großen was zu feiern haben. Dabei gibt es schauerliche Mischungen, in denen sich gefärbte Zuckerplörre mit zugesetzter Kohlensäure verbindet. Das Ergebnis: womöglich ein Brummschädel ganz ohne Zutun von Alkohol. So oder so ähnlich ist die Vorstellung vieler, wenn es um promillefreien Wein oder Sekt geht.
Augenblicklich ist es alles andere als einfach, Produkte zu finden, die über das zuckerpappige Niveau von Getränken auf Kindergeburtstagen hinausgehen. Selbst im ansonsten sehr gut bestückten Anbaugebiet Badischer Bodensee: Im Fachgeschäft des Winzervereins Meersburg zuckt der Verkäufer nur mit den Schultern und sagt: „Das wird bei uns nicht nachgefragt.“Man könne lediglich mit einem alkoholfreien Secco dienen. Im Weinshop beim Kloster Birnau, das zum Gut Markgraf von Baden gehört, gibt es unter den hunderten von Flaschen zumindest eine, die alkoholfreien Wein enthält. Die Verkäuferin meint: „Das ist ein absolutes Nischenprodukt. Das kaufen Leute, die aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend keinen Alkohol trin
dürfen. Aber sonst?“Sie winkt ab.
In Heilbronn aber ist der alkoholfreie Wein fleißig dabei, sich aus der Nische herauszuarbeiten. Daniel Drautz, einer der Geschäftsführer der Genossenschaft und zuständig für Zahlen, sagt: „Im Jahr 2020 haben wir weit mehr als 100000 Flaschen davon verkauft.“Und Drautz glaubt, man könne heuer vielleicht auf 150 000 kommen. „Wir sehen jedenfalls, dass da ein großes Potenzial da ist. Und wer wie wir früh auf diesen Zug aufspringt, profitiert später davon umso mehr.“Wie der Markt insgesamt aussehe, das wisse im Moment keiner so richtig, sagt sein Partner Rainer Weber. Auch die Frage, wie viele Weine und Sekte inzwischen im Handel erhältlich sind, kann Weber nicht beantworten. Und er ist damit nicht der Einzige.
Anruf beim Badischen Winzerverband in Freiburg: Am Telefon hört man den Chef Peter Wohlfarth erst mal ein bisschen ratlos seufzen, bevor er sagt: „Wir sehen es als Nischenprodukt. Es gibt zwar keine belastbaren Zahlen, aber wir gehen im Wein- und Sektbereich von einem Anteil von unter zwei Prozent aus.“Der Markt wachse sehr langsam, glaubt Wohlfarth, man dürfe das Thema aber nicht aus den Augen verlieren – zumal ein gesteigertes Gesundheitsbewusstsein und das Altern der Gesellschaft Faktoren seien, die alkoholfreie Getränke potenziell beliebter machten.
Knackpunkt sei nicht, dass man sich nicht vorstellen könne, dass hier ein Zukunftsmarkt heranwachse. „Der Grund ist das technische Verfahren“, erklärt Wohlfarth. Beim Bier müsse man ja lediglich fünf Prozent Alkohol aus dem Produkt herausbekommen. „Beim Wein sind es fast 15!“Das nehme dem Getränk viel von seiner Charakteristik, weil der Alkohol nun mal ein wichtiger Geschmacksträger sei.
Das Verfahren bei alkoholfreiem Wein und Sekt unterscheidet sich grundlegend von Herstellungsweisen, bei denen Gärprozesse verhindert werden, um Alkohol auszuschließen – wie etwa bei Apfel-secco. Wilhelm Keicher von der Genossenschaft erklärt die Herstellung so: Grundlage ist ein ganz normaler, vergorener und ausgebauter Wein, der in diesem Zustand einen ganz gewöhnlichen Alkoholgehalt aufweist. Die Kellermeister stellen daraus eine Cuvée her, die den besonderen Erfordernissen des Endprodukts gerecht werden muss. „Das beruht auf der Erfahrung. Die Kunst besteht darin, die richtige Mischung zu finden.“Etwa aus der Mineralität des Rieslings, der Wucht des Kerners, um am Ende ein alkoholfreies Getränk zu haben, das tatsächlich auch nach Wein und nicht nach Obstsaft schmeckt.
Die modernste Form der Ent-alkoholisierung ist das Vakuumverfahren. Bei relativ niedrigen Temperaturen verdampft dabei der Alken kohol im Vakuum bei unter 30 Grad, was dafür sorgt, dass so viele Weinaromen wie möglich erhalten bleiben. Je nach Machart wird dann noch Kohlensäure hinzugesetzt – vor allem bei alkoholfreiem Sekt. „Ein wichtiger Punkt ist die Restsüße“, sagt Keicher. Die müsse schon bei mindestens 40 Gramm pro Liter liegen, sonst schade das dem Geschmacksbild, der Substanz des Weines.
Die Weinprobe in Heilbronn geht weiter. Jetzt im Glas: der Weiße ohne Prozente. Sofort auffällig, dass er an der Nase eher unauffällig ist. Am Gaumen aber viel Frucht und Frische bei einer ausgeprägten, aber nicht zu dominanten Säure. Von der Nuance her eher halbtrocken. Tatsächlich vermittelt das Getränk ein echtes Weingefühl. Was auch für den Rosé gilt, weniger für den Roten. Dem fehlt eindeutig das, was man Körper nennt. Gerbstoffe und
Tannine sind aber spürbar vorhanden. Die Mischung aus Dornfelder und Spätburgunder zeigt überraschend viel Struktur. Oder anders gesagt: Auch ohne Alkohol gibt’s eine Menge zu schmecken.
Ein gravierender Unterschied zu konventionellem Wein ist die Lagerfähigkeit. Weil der konservierende Alkohol fehlt, ist die Haltbarkeit begrenzt. Der Wein wird also nicht – wie bestimmte rote – mit der Lagerung besser. „So ähnlich wie beim Bier“, sagt Daniel Drautz. Am besten sei es, die Getränke binnen eines halben Jahres zu konsumieren.
Rechtlich betrachtet unterliegen alkoholfreie Weine nicht dem Wein-, sondern dem Lebensmittelrecht. Das hat Auswirkungen auf die Deklaration und auch auf die Namensgebung. So darf alkoholfreier Sekt streng genommen nicht Sekt genannt werden, sondern „schäumendes Getränk aus alkoholfreiem Wein“. Oder der unverfängliche Begriff „Secco“findet Verwendung. Außerdem wichtig: Alkoholfreier Wein darf sich bis zu einer Schwelle von 0,5 Prozent alkoholfrei nennen. Eine kleine Restmenge beinhalten aber faktisch die allermeisten. Die Heilbronner Erzeugnisse enthalten 0,1 Prozent. „Das ist zwar unbedenklich, trotzdem empfehlen wir ihn weder für Kinder noch für trockene Alkoholiker“, sagt Rainer Weber.
Dass in Sachen alkoholfreier Wein noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden muss, zeigt eine Erststudie der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung von 2019, aus der die Deutsche Getränkewirtschaft zitiert: Demnach haben 28 Prozent der rund 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch nie etwas von alkoholfreiem Wein gehört. Rund die Hälfte der Befragten will ihn aber mal ausprobieren. Von denen, die ihn schon kennen, geben über 86 Prozent an, ihn wieder trinken zu wollen.
Dass man auf jeden Fall auch ohne Alkohol lustig sein kann, zeigt die Heilbronner Runde im Degustationsraum gegen Viertel nach elf, als die Stimmung nach der fünften geöffneten Flasche fröhlicher kaum sein könnte. „Es ist halt auch ein Teil vom Genuss, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, wer fährt“, sagt Rainer Weber. Auf Empfängen, bei denen es bisher nur Orangensaft als Alternative gegeben habe, um um den obligatorischen Sekt herumzukommen, existiere durch die neuen alkoholfreien Möglichkeiten jetzt jedenfalls mehr Spielraum. „Wir sind sicher, dass da in Zukunft noch mehr geht“, sagt auch Verkaufsleiter Wilhelm Keicher und stößt noch einmal mit seinen Kollegen an.
Wie groß das Potenzial ist, weiß keiner so recht
Ganz verschwunden ist der Alkohol nicht