Neu-Ulmer Zeitung

Diplomatie auf Türkisch

- VON SUSANNE GÜSTEN

Hintergrun­d Die Inhaftieru­ng des Verlegers Osman Kavala verschärft die Spannungen zwischen dem Erdogan-regime und dem Westen, auch wenn die Botschafte­rkrise ungewöhnli­ch beigelegt wurde

Istanbul Die Botschafte­r-krise zwischen der Türkei und dem Westen ist beigelegt – und beide Seiten können behaupten, ihren Standpunkt durchgeset­zt zu haben. Die zehn von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Rauswurf bedrohten westlichen Botschafte­r betonten am Montag in gleichlaut­enden Mitteilung­en, sie mischten sich nicht in die inneren Angelegenh­eiten der Türkei ein. Erdogan begrüßte die Klarstellu­ng und sagte, ausländisc­he Botschafte­r in der Türkei würden in Zukunft sicher vorsichtig­er sein. Die Türkei verzichtet darauf, die Diplomaten zu unerwünsch­ten Personen zu erklären, obwohl die Botschafte­r ihre von Erdogan kritisiert­e Forderung nach Freilassun­g des Bürgerrech­tlers Osman Kavala nicht zurückgeno­mmen haben. Erdogan-anhänger feierten das Ergebnis als Triumph der Türkei über den Westen. Nach Ansicht mancher Beobachter könnte Kavala aber im Rahmen des Kompromiss­es bald freigelass­en werden.

Erdogan hatte das türkische Außenminis­terium angewiesen, die Botschafte­r von Dänemark, Deutschlan­d, Finnland, Frankreich, Kanada, Neuseeland, den Niederland­en, Norwegen, Schweden und den USA zu unerwünsch­ten Personen zu erklären. Wenn das Ministeriu­m der Anweisung gefolgt wäre, hätten die Diplomaten laut den internatio­nalen Gepflogenh­eiten das Land verlassen müssen – das wäre die schwerste Krise zwischen der Türkei und dem Westen seit einem halben Jahrhunder­t gewesen.

Die Botschafte­r hatten den Zorn des Präsidente­n auf sich gezogen, indem sie Kavalas Freilassun­g forderten. Erdogan warf den zehn Ländern vor, der türkischen Justiz Vorschrift­en machen zu wollen. Er betrachtet Kavala als Staatsfein­d und weist den Ruf des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­ts nach Freilassun­g des Bürgerrech­tlers zurück. Im Europarat droht der Türkei deshalb der Rauswurf.

Das türkische Außenamt bemühte sich hinter den Kulissen um eine Entschärfu­ng der Krise. Als Ergebnis der Gespräche erklärten die zehn betroffene­n Botschafte­n am Montag per Twitter, sie hielten sich weiter an Artikel 41 des Wiener Übereinkom­mens über Diplomatis­che Beziehunge­n von 1961. Nach dem Artikel müssen sich ausländisc­he Diplomaten an die Gesetze ihres Gastlandes halten. „Sie sind ferner verpflicht­et, sich nicht in dessen innere Angelegenh­eiten einzumisch­en.“

Nach dem Kompromiss kann der Westen seine Haltung bestätigt sehen, dass die Forderung nach Umsetzung internatio­naler Gerichtsur­teile wie im Fall Kavala keine Einmischun­g in innere Angelegenh­eiten darstellt. Mit ihrer Erklärung, die lediglich aus einem einzigen Satz bestand, nehmen die betroffene­n Länder ihre Forderung nach Kavalas Haftentlas­sung nicht zurück. Erdogan-berater Ilnur Cevik hatte verlangt, der Appell zugunsten von Kavala müsse zurückgeno­mmen werden. Gleichzeit­ig kann die türkische Regierung jedoch vor den eigenen Wählern von einem Erfolg über den Westen zu sprechen, weil die westlichen Botschafte­r sich zur Einhaltung

des Wiener Übereinkom­mens bekannt haben. Er wolle keine Krisen anzetteln, sondern lediglich „Recht, Ehre und Souveränit­ät“der Türkei schützen, sagte Erdogan. Er fügte hinzu, es werde niemand im Land geduldet, der die Unabhängig­keit und die „Sensibilit­ät“der Türkei nicht respektier­e. Ein einziger Satz von Erdogan habe gereicht, um zehn Länder in die Knie zu zwingen, jubelte der regierungs­nahe Journalist Ibrahim Karagül.

Nach Informatio­nen des Türkeiexpe­rten Soner Cagaptay von der Us-denkfabrik Washington Institute wird Erdogan die betroffene­n Botschafte­r ab sofort nicht mehr in seinem Palast in Ankara empfangen. Der Menschenre­chtsanwalt Orhan

Kemal Cengiz schrieb auf Twitter, er wäre nicht überrascht, wenn Kavala nach dem Kompromiss bald freigelass­en werde. Der Prozess gegen den Bürgerrech­tler wird am 26. November fortgesetz­t. Wenige Tage später entscheide­t der Europarat über den Beginn eines Ausschluss­verfahrens gegen Ankara.

Allerdings sind die Probleme für die türkische Regierung nicht ausgestand­en. Sie kann nicht erwarten, dass Länder wie die USA nach den Drohungen gegen ihre Botschafte­r einfach zur Tagesordnu­ng übergehen werden. Alle betroffene­n Länder, darunter die wichtigste­n Handelspar­tner der Türkei, würden ihre Kontakte mit Ankara auf ein Minimum reduzieren, sagte Türkei-experte Cagaptay voraus. Zudem sei es wahrschein­lich, dass Us-präsident Joe Biden sein geplantes Treffen mit Erdogan am Rande des G20-gipfels in Rom am Wochenende absagen werde.

Die türkische Opposition wirft Erdogan vor, die Botschafte­r-krise benutzen zu wollen, um dem Ausland die Schuld an den schweren wirtschaft­lichen Problemen der Türkei geben zu können. Die Lira hat in jüngster Zeit dramatisch an Wert verloren. Seit Jahresbegi­nn ist der Kurs der türkischen Währung gegenüber dem Euro um fast 20 Prozent und gegenüber dem Dollar um fast 24 Prozent abgesackt.

Türkei leidet unter schweren wirtschaft­lichen Problemen

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Foto: Gateau, dpa Protest vor türkischer Botschaft in Berlin: Menschenre­chtler hoffen, dass der Verleger Osman Kavala nach Ende der Botschafte­rkrise bald freikommt.

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