Ab und an werden Leichenteile gefunden
Premiere Mit Schostakowitschs grotesker Oper „Die Nase“startet zeichenhaft die neue Intendanz der Bayerischen Staatsoper. Es inszenierte per Zoom aus dem Moskauer Hausarrest: Kirill Serebrennikov
München Eine neue Intendanz, ein neues Generalmusikdirektorenamt beginnt man nicht, ohne dabei auch ein Zeichen zu setzen. Die Wahl der ersten Produktion trägt einen Gutteil an programmatischem Charakter. Wenn jetzt der Belgier Serge Dorny, Staatsopernintendanz-nachfolger von Nikolaus Bachler, und der Russe Vladimir Jurowski, Nachfolger von Kirill Petrenko, ein gesellschaftskritisches Stück der klassischen Moderne Russlands – eher vom Rande des Opernrepertoires – als Auftakt einer neuen Leitungsperiode festsetzen, dann heißt das eben so viel, als wenn sie mit Puccinis „Bohème“in den Ring steigen würden: Das Publikum wird sich auf deutlich mehr denn (vokale) Kulinarik freuen können. Wiederentdeckungen, Neubetrachtungen, Neuschöpfungen machten
Keine Nase heißt: keine Würde, kein Gesicht
ja auch schon einen Schwerpunkt der vielgepriesenen Arbeit Dornys an der Oper Lyon aus.
Das Zeichen, das er und Jurowski nun in München setzen, heißt „Die Nase“. Als vergleichsweise kurzes Stück (1’50’’) mit vergleichsweise kleinem Orchester, dazu in einem Rutsch durchgespielt, könnte es wie eine ideale „Corona-oper“wirken, zumal – wir tragen ja Masken – der Titelheld sozusagen allgemein abgängig ist. Keine Nase – keine Identität und Würde, ja, kein Gesicht.
Aber derlei Korrelate bleiben nur ein Nebeneffekt dieser Produktion, die – um mit der Tür ins Haus zu fallen – ein Wurf zum Intendanzstart ist. Es geht natürlich um mehr, um Grundsätzliches, bei dieser frühen Dmitri-schostakowitsch-oper (nach einer Erzählung Nikolai Gogols), mit der sich ihr Urheber sozusagen erstmals verdächtig komponierte, weil sie den russischen Normalbürger alles andere als zum Helden stilisiert. An Sowjet-patriotismus jedenfalls lässt es der Dreiakter sozusagen gehörig mangeln, nicht nur weil selbst Körperliches wie
Rülpser und Winde vertont sind. Und wenn dann diese surreale, absurde „Nase“auch noch via Zoom von dem in Moskauer Hausarrest sitzenden, weil missliebigen Kirill Serebrennikov inszeniert ist – noch ein Zeichen! –, dann darf erst recht kein Erbauungstheater erwartet werden.
Serebrennikov (auch Bühne und Kostüme) hat mit der russischen Justiz einschlägige Erfahrungen gemacht; in der „Nase“nun widmet er sich einem russischen Polizeistaat und dessen Exzessen im eiskalten St. Petersburg. Dort werden ab und an Leichenteile gefunden; nicht nur von der korrupten, übergriffigen, gewalttätigen Polizei abgeschnittene Nasen, sondern auch Hände, Beine und dergleichen mehr. Hier gibt es viele Polizisten (und Spitzel) – auch jener Barbier ist einer, der dem Kollegienassessor und Polizisten Kovaljov die Nase abschneidet. Ihm fehlt fürderhin das Gesicht – während andere in Serebrennikovs Regie dank mehrerer Nasen mehrere Gesichter tragen… Auch so entsteht mit diesem Episoden- und Stationendrama voller schmerzlicher Ironien und bitterer Pointen das suggestiv beklemmende Bild eines Willkürstaates – und ein Fanal für Menschenwürde.
Natürlich hat es Schostakowitsch in dieser grotesken Tragödie Kovaljovs auch darauf angelegt, durch auskomponierte Lamentos Mitleid im Auditorium zu erregen. Aber dann schlägt das Stück eine Volte, erst recht die Inszenierung Serebrennikovs: In dem Moment, da Kovaljov seine Nase wieder errungen hat, wandelt er sich auch wieder von der Passionsfigur zum grauen, spießigen Normalbürger, der ausreichend Lebensfreude im Alkohol, in einem kecken Karnevalshütchen und in der Frauenanmache findet – wobei bei Serebrennikov die Frau noch ein Kind ist ... Mitgedacht wird da: Vielleicht hätte man K. die Nase doch vorenthalten sollen… Es ist ein düsteres Gesellschaftsbild jedenfalls,
Das Staatsorchester als Staatsapparat
das der zum überbordenden Schlussapplaus per Video sich bedankende Serebrennikov gezeichnet hat.
Und das Staatsorchester unter Vladimir Jurowski liefert dazu die mal trockene, mal schräge, mal keifende Begleitmusik – auch dies quasi ein präzis arbeitender Staatsapparat.
Oft tönt hier ein gleichsam kafkaeskes Räderwerk vor dem Staatsopernchor eines einerseits gedemütigten, andererseits ungehobelten Volkes. Man hat sich einige bei uns ungeläufige Namen zu merken von dieser auf Russisch gesungenen Produktion mit vielen slawischen Solisten. Nicht so bei Boris Pinkhasovich (heute Staatsoper Wien), der dem Platon Kovaljov nahezu belkantistische Bögen verleiht – und stellvertretend genannt sein soll für die bestens engagierte, bestens einstudierte Besetzung, in der es aber auch eine Wiederbegegnung mit Doris Soffel als Alte Dame gibt.
Wenn das Aufbruchszeichen „Die Nase“in ihrem Aplomb auf Dauer eingelöst werden könnte, bekämen wir es tatsächlich mit konstruktiv-konfrontativem Musiktheater zu tun. Heißt: gute Aussicht.