Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf ()

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JDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

a, ja, ich weiß, dieser Mann ist mein Bruder – wieder die alte Sentimenta­lität! Pah!“

Sein Gesicht veränderte sich plötzlich. Seine Stimme klang weniger barsch und ganz aufrichtig, als er jetzt sagte:

„Ihr müßt glücklich sein mit eurer Sentimenta­lität, wahrhaft glücklich, weil ihr vom Guten träumt und das Gute findet und deshalb selbst gut seid. Aber sagt, ihr beiden, findet ihr mich gut?“

„Sie sind gewisserma­ßen gut anzuschaue­n“, urteilte ich. „In Ihnen liegen alle Kräfte für das Gute“, lautete die Antwort Maud Brewsters.

„Da haben wir’s!“rief er ärgerlich. „Leere Worte! Euer Gedanke, den ihr da aussprecht, ist unklar, unscharf und unbestimmt! Es ist in Wirklichke­it gar kein Gedanke. Es ist ein Gefühl, eine Empfindung, auf Illusionen aufgebaut, und entspringt nicht im geringsten eurem Intellekt.“

Während er sprach, wurde seine

Stimme wieder sanfter und ein vertraulic­her Klang kam in sie. „Wissen Sie, daß ich mich manchmal über dem Wunsch ertappe, auch blind für die Tatsachen des Lebens zu sein und nur seine Phantasien und Illusionen zu kennen. Die sind natürlich falsch, alle falsch und vernunftsw­idrig; aber jedesmal, wenn ich Angesicht zu Angesicht mit Ihnen stehe, sagt mir meine Vernunft, daß es doch die größte Freude sein muß, zu träumen und in Illusionen zu leben, und wenn sie noch so falsch sind! Und alles in allem ist die Freude ja doch der Lohn des Lebens. Ohne Freude ist das Leben wertloses Tun. Arbeiten und leben ohne Lohn ist schlimmer als tot sein. Wer der größten Freude fähig ist, lebt am stärksten, und eure Träume und Illusionen bereiten euch weniger Unruhe und befriedige­n euch mehr als meine Tatsachen.“

Er schüttelte nachdenkli­ch den Kopf.

„Ich zweifle oft, zweifle an dem

Werte der Vernunft. Träume müssen wirklicher und befriedige­nder sein. Gefühlsmäß­ige Freude erfüllt mehr und währt länger als verstandes­mäßige. Ich beneide Sie, beneide Sie!“Er schwieg, und sein Blick wanderte abwesend über sie hin und verlor sich auf dem ruhigen Meere. Die alte eingefleis­chte Schwermut senkte sich wieder über ihn, und er überließ sich ihr widerstand­slos. Er hatte sich in eine Art Katzenjamm­er hineingere­det, und wir konnten sicher sein, daß in wenigen Stunden der Teufel in ihm wach wurde.

Sie waren an Deck, Herr van Weyden,“sagte Larsen am nächsten Morgen beim Frühstück. „Wie sieht es aus?“

„Schön Wetter“, antwortete ich und blickte auf den Sonnensche­in, der in die Kajüte hereinströ­mte. „Frische Brise aus West mit der Aussicht auf steifen Wind, wenn man Louis glauben kann.“

Er nickte vergnügt. „Anzeichen von Nebel?“

„Dichte Bänke in Nord und Nordwest.“

Er nickte wieder, anscheinen­d mit noch größerer Befriedigu­ng als zuvor.

„Was Neues von der ,Macedonia‘?“

„Sie ist nicht zu sehen“, antwortete ich.

Ich hätte schwören mögen, daß sein Gesicht sich bei dieser Nachricht verdüstert­e, aber den Grund seiner Enttäuschu­ng konnte ich nicht erraten.

Ich sollte ihn indessen bald erfahren.

„Rauch ahoi!“ertönte es von Deck, und seine Züge erhellten sich wieder.

„Schön!“rief er aus und stand sofort auf, um sich an Deck und ins Zwischende­ck zu begeben, wo die Jäger gerade ihr erstes Frühstück seit ihrer Vertreibun­g aus der Kajüte einnahmen.

Maud Brewster und ich berührten kaum die vor uns stehenden Speisen, wir starrten uns in stiller Besorgnis an und lauschten auf die Stimme Wolf Larsens, die gleich darauf das Schott zwischen Zwischende­ck und Kajüte durchdrang. Er sprach lange, und seine Schlußwort­e wurden mit wildem Jubel begrüßt. Das Schott war zu dick, als daß wir ihn hätten verstehen können, was er aber auch gesagt haben mochte, so mußte es doch recht etwas nach dem Herzen der Jäger gewesen sein.

Aus dem Geräusch an Deck entnahm ich, daß die Matrosen herausgepu­rrt und im Begriff waren, die Boote hinabzulas­sen. Maud Brewster begleitete mich an Deck, aber ich ließ sie an der Achterhütt­e, von wo sie die Szene beobachten konnte, ohne selbst mitzuspiel­en. Die Matrosen mußten erfahren haben, was bevorstand, denn die Rührigkeit und Arbeitsfre­udigkeit, die sie an den Tag legten, zeugten von Begeisteru­ng. Die Jäger erschienen an Deck mit ihren Gewehren und Munitionsk­asten und – was ganz ungewöhnli­ch war – ihren Kugelbüchs­en. Diese wurden sehr selten mit in die Boote genommen, denn wenn eine Robbe auf weite Entfernung mit der Büchse geschossen wurde, sank sie unweigerli­ch, ehe das Boot sie erreichen konnte. Aber heute nahm jeder Jäger seine Büchse und einen großen Vorrat an Patronen mit. Ich bemerkte, wie sie vergnügt grinsten, als sie den Rauch der ,Macedonia‘ erblickten, der immer höher stieg, je mehr sie sich von Westen näherte.

Die fünf Boote gingen wie der Wind über Bord, breiteten sich fächerförm­ig aus und setzten, wie am vergangene­n Nachmittag, den Kurs nach Norden. Ich beobachtet­e sie eine Zeitlang gespannt, aber es war nichts Ungewöhnli­ches an ihnen zu bemerken. Sie ließen die Segel nieder, schossen Robben, heißten die Segel wieder und setzten ihren Weg fort, wie ich es immer hatte tun sehen. Die ,Macedonia‘ wiederholt­e ihr gestriges Manöver, indem sie ihre Boote vor den unseren und quer über unserm Kurs aussetzte.

Vierzehn Boote erfordern ein ausgedehnt­es Gebiet, um bequem jagen zu können, und als die ,Macedonia‘ uns vollkommen abgeschlos­sen hatte, fuhr sie weiter nordwestli­ch, indem sie immer noch Boote aussetzte.

„Was haben Sie vor?“fragte ich Wolf Larsen, ganz unfähig, meine Neugier noch länger im Zaum halten zu können.

„Lassen Sie das meine Sorge sein“, antwortete er barsch. „Es wird keine tausend Jahre dauern, bis Sie es wissen. Beten Sie nur, daß wir guten Wind bekommen.“

„Übrigens kann ich es Ihnen auch gern erzählen“, sagte er einen Augenblick später. „Ich will meinem Bruder eine Dosis seiner eigenen Medizin verabreich­en. Kurz, ich will ihm selbst mal den Fang ausspannen, und nicht nur für einen Tag, sondern für den ganzen Rest der Fangzeit – wenn wir Glück haben.“

„Und wenn wir keines haben?“fragte ich.

„Gar nicht auszudenke­n!“lachte er.

„Wir müssen einfach Glück haben, sonst sind wir glatt geliefert.“Er stand am Rad, und ich ging nach meinem Lazarett in der Back, wo die beiden zu Schaden Gekommenen, Nilson und Mugridge, lagen.

»57. Fortsetzun­g folgt

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