Ein Museum voller Lebenswandel
Bremerhaven Das Deutsche Auswandererhaus hat mit dem Einwandererhaus eine wichtige Ergänzung gefunden.
Wie Besucher hier den außergewöhnlichen Lebensgeschichten besonders nah kommen
Der Pass, den ich am Eingang zum Auswandererhaus in Bremerhaven bekomme, weist mich als Freide S. Eisenberg aus. Wer war diese Freide? In der „Galaxie der 7 Millionen“werde ich fündig: Das Mädchen wurde 1895 in Mikova, damals Österreich-ungarn, geboren und war die älteste Tochter der Familie. Freide ist wissbegierig und ahnt schon bald, dass sie zu Hause nicht weiterkommen wird. Und da ist Amerika, das Land ohne Grenzen, wo bereits ein Teil der Familie lebt. Weil die Familie auf finanzielle Unterstützung hofft, erlaubt der Vater die Auswanderung der Tochter. Da ist Freide gerade mal 15 Jahre alt!
Was für ein Abenteuer, was für ein Wagnis! In Rotterdam geht das Mädchen an Bord eines Schiffes, das nach New York fährt. Ich stehe mitten unter den Menschen, die in der Wartehalle dritter Klasse mit Koffern und Kisten, mit Kind und Kegel auf ihre Einschiffung warten. 7,2 Millionen Menschen haben von Bremerhaven aus die Schiffspassage nach Übersee angetreten in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Inszenierung ist realitätsnah. Düster ist es hier, fast beklemmend.
Noch beklemmender als die Enge in der Wartehalle ist die Überfahrt – oft in Massenunterkünften. Fünf bis 15 Wochen konnte sie dauern, und die Hygieneverhältnisse waren verheerend. Kein Wunder, dass sich im Zwischendeck, wo die Menschen dicht an dicht lagerten, Krankheiten ausbreiteten. Die wenigsten konnten sich den Luxus einer Kabine leisten. Auch ich kann nur durch Gucklöcher einen Blick auf den unerreichbaren Luxus werfen. Doch Freide hat noch Glück. Schon nach zwei Wochen kommt sie in New York an – Ellis Island verheißt den
die Verwirklichung ihrer Träume.
Bis zu 12000 Menschen werden am Tag abgefertigt, eine davon ist Freide. Ich sitze auf einer der harten Wartebänke und stelle mir vor, wie sich das Mädchen gefühlt hat. Sie sieht, dass Mitreisende die Tests nicht bestehen und zurückgeschickt werden. Freide kämpft sich durch, macht sich vorsichtshalber ein Jahr älter. Doch würde sie nicht ein Cousin abholen, sie wäre in der riesigen Stadt verloren. Alles ist so ganz anders als zu Hause in Mikova. Die Central Station kommt ihr gigantisch vor. Wie armselig war dagegen das Leben der Familie.
Freide ist entschlossen, sich eine Zukunft aufzubauen, dafür arbeitet sie hart, zuerst als Kindermädchen in einer jüdischen Familie, dann als Vorarbeiterin in einer Fabrik. Sie näht und kauft sich eine Aussteuer
lässt ihren Namen amerikanisieren und holt einige Geschwister nach – Eltern und Schwestern kommen später durch den Holocaust ums Leben. Mit Ende 20 heiratet Freide einen Witwer mit zwei Söhnen und bekommt eine Tochter, Shirley. Im Gegensatz zu ihrer Mutter kann Shirley den Highschool-abschluss machen. Die Enkelin schafft es bis zur Professorin. Mit 79 wandert Freide mit Tochter Shirley und deren Familie noch einmal aus – nach Israel. Da ist sie schon 20 Jahre Witwe. Doch sie ist zu alt, um noch einmal neu anzufangen, und kehrt mit 86 Jahren in die USA zurück, in das Land, das für sie zur Heimat wurde.
Was für ein Leben! Dem Auswandererhaus gelingt es durch realitätsnahe Inszenierungen die große Geschichte in kleinen Geschichten zu erzählen. Statt als bloßer Beauswanderern trachter durch eine Ausstellung zu wandern, werden Besucherinnen und Besucher selbst zu Handelnden und tauchen tief ein in authentische Familiengeschichten.
Über eine Brücke ist das Auswandererhaus mit dem Einwandererhaus verbunden, einem weißen Kubus, auf dessen Fassade je nach Lichteinfall Porträts von Einwanderern zu sehen sind. „Willkommen in Deutschland“ist hier das Motto. Es galt im 17. Jahrhundert für die Hugenotten, die in Frankreich wegen ihrer Religion verfolgt wurden, und sollte auch für die sogenannten Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei gelten, die von der Bundesrepublik angeworben wurden.
Die junge Kulturanthropologin Lina Falivena – schmal, blond, mit großer Brille – war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Konzeptizusammen, on beteiligt. Sie sagt, dass es hier um die Auseinandersetzung mit der neueren Geschichte gehe. Im „Saal der Debatten“kann man sich für ein Thema entscheiden – Lastenausgleich, Gastarbeiter, Asyldebatte, Staatsangehörigkeitsrecht. Das funktioniert interaktiv, aber auch Exponate helfen weiter. Sie erzählen davon, wie Migranten in unserer Gesellschaft angekommen sind. Lina Falivena deutet auf vier Löffel, die vier verschiedene Einwanderungsgeschichten erzählen. Und sie macht darauf aufmerksam, wie unterschiedlich Einwanderer empfangen wurden. So waren die französischen Hugenotten einst hoch willkommen, während Türken lange um Anerkennung kämpfen mussten. Und wie steht es mit den Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und aus vielen afrikanischen Ländern, die auf ein Bleiberecht in Deutschland hoffen?
Es gibt Erfolgsgeschichten wie die einer Tochter von Analphabeten aus Lateinamerika, die als Wissenschaftlerin erfolgreich ist. Und es gibt die existenziellen Fragen rund um das Thema Gastarbeiter. Kann Deutschland ihnen Heimat sein? Was ist mit denen, die nicht mehr arbeiten können? Gehen sie zurück oder bleiben sie? Wie kommt die nächste Generation in Deutschland zurecht? Kann sie hier heimisch werden wie Freide in den USA?
Die Brücke zwischen Auswandererund Einwandererhaus ist auch ein Symbol. Beide Häuser gehören zusammen, spiegeln einander. Sie erzählen von Menschen, die ihre Heimat verlassen, um in einem anderen Land ihr Glück zu finden oder auch nur einen Platz zum Leben. Die beiden Häuser in Bremerhaven zeigen, wie sehr Aus- und Einwanderung Teil auch der deutschen Geschichte sind.