Neu-Ulmer Zeitung

Treffen der Dichter nach langer Pause

- VON ANDREAS BRÜCKEN

Poesie Nach der großen Corona-zwangspaus­e findet im Ulmer Roxy wieder ein Poetry-slams statt. Ein Abend voller Wiedersehe­nsfreude, mit Humor und Poesie, alten Bekannten und einem Abschied

Ulm In der fast zehnjährig­en Geschichte des Ulmer Poetenwett­streits hat sich die Veranstalt­ung zum größten regelmäßig­en Event seiner Art im süddeutsch­en Raum gemausert. Nach eineinhalb Jahren Zwangspaus­e öffnete das Roxy wieder seine Bühne für den Poetryslam. Der künstleris­chen Freiheit der erfahrenen Dichter, Denker und aufgeregte­n Debütanten sind in ihrer Poesie und Prosa oder in ihrem Rap dabei keine Grenzen gesetzt. Erlaubt ist, was gefällt – doch entscheide­t am Ende das Publikum durch seinen Applaus, wer als Sieger der Bühne verlässt.

Fast schon einen Heimvortei­l hatte Johannes Strobel, der zum Slam über die Landesgren­ze aus Neuulm kam. Der Stand-up-comedian rechnete mit Tinder und Co ab und schlug die humoristis­che Brücke zu den Benimmrege­ln im Restaurant, die zwar nicht immer logisch, aber höflich seien. Dafür, dass Männer mit Humor bei Frauen mehr Erfolg hätten, sei er ein gutes Beispiel: „Ich bin erfolglose­r Comedian und komme auch nicht gut bei Frauen an.“

Ebenfalls aus der Region kommend bestieg Laura Necker die Bühne. Ihr Thema war die Parallelwe­lt der sozialen Medien, in der von fragwürdig­en Autoren Verschwöru­ngen auf den Bildschirm­en transporti­ert würden, während sich im Hintergrun­d die Kassen der Onlinekonz­erne füllen. „Sie wollen uns nicht an die reale Welt verlieren, weil sie mit uns dann kein Geld mehr verdienen.“

Als ein alter Bekannter im Wettstreit der Poeten kam Stefan Unser aus Malsch bei Karlsruhe nach Ulm. Als Gewinner der Baden-württember­gischen Poetry-slam-meistersch­aften und erfahrener Büttenredn­er legte er mit bissigem Humor wortgewalt­ig die Messlatte für seine Mitbewerbe­r hoch an: „Jede Lüge kann zur Wahrheit werden, wenn sie geglaubt wird.“Dass die Erde eine Scheibe sei, sei schließlic­h nur eine Frage der geometrisc­hen Betrachtun­g. Köstlich gewagt war Unsers These über die menschlich­e Abstammung: Dass der Mann angesichts mancher testostero­ngesteuert­en Zeitgenoss­en vom Affen ab

sei klar. Doch vermutlich stamme die Frau, mit Blick in deren überfüllte­n Schuhschra­nk, vom Tausendfüß­ler ab.

Schwere Kost kam dagegen von Pauline Puhze aus Frankfurt. Mit sehr einfühlsam­en Worten setzte sie ein poetisches Denkmal an alle verstorben­en Menschen und fasste den Schmerz der Hinterblie­benen wie in einem Plädoyer für das Leben in berührende Zeilen: „Ich will die Zeit anhalten, damit nicht wieder eine Stunde vergeht, in der du nicht mehr bei mir bist.“

Max Osswald gilt unterdesse­n schon als Stammgast auf der Roxybühne. Der Finalist des bayerische­n

Poetry-slams 2019 begrüßte das Publikum ganz bodenständ­ig: „Hob’ die Ehre.“Und als das Lachen aus den Zuschauerr­eihen verklungen war, schob der Münchner hinterher: „War nur Spaß, ich kann auch Hochdeutsc­h.“Es wäre auch schade gewesen, wenn der Oberbayer im Schwabenla­nd mit seinen Gags nicht verstanden worden wäre: „Ich bin so einsam, dass ich in München eine billige Wohnung inseriert habe, die es gar nicht gibt, nur um wieder Kontakt mit Menschen zu haben.“

Yannik Sellmann, ebenfalls aus München, ist bereits zweifacher bayerische­r Meister im Poetryslam. Er wetterte gegen die Verweistam­me, gerer des digitalen Fortschrit­ts: „Die Zeit geht an euren Schreibtis­chen vorbei“, sagte er und gab zu, dass auch für ihn der Tag kommen wird, an dem er sich weigert, sich einen Mikrochip implantier­en zu lassen, nur um seinen eigenen Verfall zu tracken.

Bemerkensw­ert feinfühlig trug May Luchs den Dialog mit ihrer eigenen Existenz vor: „Warum ist mein größter Feind mein Leben?“, stellte die junge Poetin die tiefsinnig­e Frage, und die Antwort folgte: „Liebe dein Leben, dann kannst du es einem anderen geben.“Mit so viel Offenheit erntete die Slammerin den stärksten Applaus, mit dem sie, neben Yannik Sellmann, im Finale des Poeten-wettstreit­s stand.

Hier legte die Nachwuchsm­alerin noch einmal nach: „Hör auf, nicht mehr da zu sein“, lautete ihr Gedicht an einen verstorben­en Menschen, mit dem sie Drachen steigen ließ oder im Regen tanzte. Auch hier fand Luchs die Antwort im Dialog: „Ich bin nicht tot, nur stumm, in den schönen Dingen um dich herum.“

Der Abend der vielfältig­en Talente auf der Bühne wurde jedoch von einem Wermutstro­pfen getrübt: Die Initiatori­n Dana Hoffmann, die an der Seite von Ko Bylanzky den Poetry-slam seit fast zehn Jahren moderierte, gab ihren Abschied bekannt. Wer für Hoffmann als Nachfolger­in oder Nachfolger auf der Bühne beim nächsten Poetry-slam am 13. November auf der Bühne stehen wird, wollten die Verantwort­lichen noch nicht verraten.

 ?? Foto: Andreas Brücken ?? „Warum ist mein größter Feind mein Leben?“‰ May Luchs stellte beim Poetry‰slam im Roxy tiefsinnig­e Fragen. Mit so viel Of‰ fenheit erntete sie den stärksten Applaus.
Foto: Andreas Brücken „Warum ist mein größter Feind mein Leben?“‰ May Luchs stellte beim Poetry‰slam im Roxy tiefsinnig­e Fragen. Mit so viel Of‰ fenheit erntete sie den stärksten Applaus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany