Bis zur nächsten Welle
Leitartikel Eine Booster-offensive? Eine Impfpflicht für Pflegeberufe? Dauert noch. Weil die Politik zu zögerlich agiert hat, wird ein neuer Lockdown wahrscheinlicher
Markus Söder schafft bereits Fakten. Mit einem Defacto-lockdown für Ungeimpfte will der Ministerpräsident in Bayern alle Möglichkeiten ausschöpfen, die ihm das Anti-corona-instrumentarium an die Hand gibt. Wie in Österreich, wo mit Salzburg und dem benachbarten Oberösterreich mindestens zwei Bundesländer das öffentliche Leben noch drastischer herunterfahren wollen, nimmt der Kampf gegen die steigenden Infektionszahlen auch in Deutschland immer verzweifeltere Züge an. Das ist, einerseits, verständlich angesichts der aktuellen Lage – andererseits aber auch ein Ausdruck politischer Hilflosigkeit.
Die Debatte um das neue Infektionsschutzgesetz und das Hin und Her bei der Ministerpräsidentenkonferenz zeigen deutlich, woran es der deutschen Politik in dieser
Krise fehlt – an Weitsicht und an Teamgeist. Einmal mehr wird die vermeintlich so gut organisierte Bundesrepublik von den Problemen überrumpelt, doch anstatt sich auf einen gemeinsamen Kraftakt zu besinnen, dominieren im Bundestag und einigen Ländern parteipolitische Interessen und persönliche Profilierungsversuche, begleitet von immer stereotyper vorgetragenen Impfappellen. Gehandelt wird nur unter Druck und meist in letzter Sekunde – bis zur nächsten Welle.
Dabei ist die Pandemie jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Politik die alten Rezepte neu überprüfen muss. Natürlich sollen sich möglichst viele der 15 Millionen Ungeimpften noch impfen lassen. Das aber kostet Zeit, Nerven und bringt auf die Schnelle nicht viel. Umso wichtiger wäre es jetzt, den nachlassenden Impfschutz der bereits Geimpften mit einem Booster zu erneuern – das reduziert die Virenlast und die Weiterverbreitung des Virus. Ein Ungeimpfter, der viermal pro Woche getestet wird, kann für seine Mitmenschen inzwischen ein geringeres Risiko sein als ein Geimpfter, der seine letzte Spritze schon vor einem halben Jahr erhalten hat. Ob die in den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz angedeutete Boosteroffensive allerdings hält, was sie verspricht, ist nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres mindestens fraglich. Nicht nur in Bayern sind Impftermine ein knappes Gut.
Auch sonst läuft das Krisenmanagement
von Bund und Ländern alles andere als rund. Eine Impfpflicht für das Personal in Kliniken und Altenheimen wird zwar seit Wochen diskutiert und jetzt auch von den Ländern gefordert, beschlossen aber ist sie noch nicht. Dass in Bussen und Bahnen nur noch Genesene, Geimpfte und Getestete sitzen sollen, ist zwar vernünftig – aber wer kontrolliert das? Dass nur noch Genesene und Geimpfte Zutritt zu Restaurants, Museen oder Veranstaltungen
haben, macht zwar epidemiologisch Sinn. Millionen von Ungeimpften damit ihrer Freiheiten zu berauben, ist aber ein verfassungsrechtlich äußerst heikles Unterfangen, um nicht zu sagen eine Blamage für den Rechtsstaat.
Während Länder wie Spanien oder Italien Corona halbwegs im Griff haben, ist die Lage in Deutschland von Woche zu Woche schlimmer geworden anstatt besser. Damit wird ein bundesweiter Lockdown für Ungeimpfte oder ein Lockdown durch die Hintertür mit verpflichtenden Tests für Genesene und Geimpfte immer wahrscheinlicher: Ein Land, das sich nach nichts mehr sehnt als nach Normalität, haftet kollektiv für die organisierte Umständlichkeit seiner Politiker. Bereits im August haben die Gesundheitsminister über die Dringlichkeit von Auffrischungsimpfungen beraten. Passiert ist – nichts. Von den fast 30 Millionen Boostern bis Ende des Jahres, die Angela Merkel den Ministerpräsidenten angeblich als Ziel genannt hat, ist Deutschland heute so weit entfernt wie Jens Spahn vom Kanzleramt.
Impftermine
sind ein knappes Gut