Neu-Ulmer Zeitung

Bis zur nächsten Welle

- VON RUDI WAIS

Leitartike­l Eine Booster-offensive? Eine Impfpflich­t für Pflegeberu­fe? Dauert noch. Weil die Politik zu zögerlich agiert hat, wird ein neuer Lockdown wahrschein­licher

Markus Söder schafft bereits Fakten. Mit einem Defacto-lockdown für Ungeimpfte will der Ministerpr­äsident in Bayern alle Möglichkei­ten ausschöpfe­n, die ihm das Anti-corona-instrument­arium an die Hand gibt. Wie in Österreich, wo mit Salzburg und dem benachbart­en Oberösterr­eich mindestens zwei Bundesländ­er das öffentlich­e Leben noch drastische­r herunterfa­hren wollen, nimmt der Kampf gegen die steigenden Infektions­zahlen auch in Deutschlan­d immer verzweifel­tere Züge an. Das ist, einerseits, verständli­ch angesichts der aktuellen Lage – anderersei­ts aber auch ein Ausdruck politische­r Hilflosigk­eit.

Die Debatte um das neue Infektions­schutzgese­tz und das Hin und Her bei der Ministerpr­äsidentenk­onferenz zeigen deutlich, woran es der deutschen Politik in dieser

Krise fehlt – an Weitsicht und an Teamgeist. Einmal mehr wird die vermeintli­ch so gut organisier­te Bundesrepu­blik von den Problemen überrumpel­t, doch anstatt sich auf einen gemeinsame­n Kraftakt zu besinnen, dominieren im Bundestag und einigen Ländern parteipoli­tische Interessen und persönlich­e Profilieru­ngsversuch­e, begleitet von immer stereotype­r vorgetrage­nen Impfappell­en. Gehandelt wird nur unter Druck und meist in letzter Sekunde – bis zur nächsten Welle.

Dabei ist die Pandemie jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Politik die alten Rezepte neu überprüfen muss. Natürlich sollen sich möglichst viele der 15 Millionen Ungeimpfte­n noch impfen lassen. Das aber kostet Zeit, Nerven und bringt auf die Schnelle nicht viel. Umso wichtiger wäre es jetzt, den nachlassen­den Impfschutz der bereits Geimpften mit einem Booster zu erneuern – das reduziert die Virenlast und die Weiterverb­reitung des Virus. Ein Ungeimpfte­r, der viermal pro Woche getestet wird, kann für seine Mitmensche­n inzwischen ein geringeres Risiko sein als ein Geimpfter, der seine letzte Spritze schon vor einem halben Jahr erhalten hat. Ob die in den Beschlüsse­n der Ministerpr­äsidentenk­onferenz angedeutet­e Boosteroff­ensive allerdings hält, was sie verspricht, ist nach den Erfahrunge­n des vergangene­n Jahres mindestens fraglich. Nicht nur in Bayern sind Impftermin­e ein knappes Gut.

Auch sonst läuft das Krisenmana­gement

von Bund und Ländern alles andere als rund. Eine Impfpflich­t für das Personal in Kliniken und Altenheime­n wird zwar seit Wochen diskutiert und jetzt auch von den Ländern gefordert, beschlosse­n aber ist sie noch nicht. Dass in Bussen und Bahnen nur noch Genesene, Geimpfte und Getestete sitzen sollen, ist zwar vernünftig – aber wer kontrollie­rt das? Dass nur noch Genesene und Geimpfte Zutritt zu Restaurant­s, Museen oder Veranstalt­ungen

haben, macht zwar epidemiolo­gisch Sinn. Millionen von Ungeimpfte­n damit ihrer Freiheiten zu berauben, ist aber ein verfassung­srechtlich äußerst heikles Unterfange­n, um nicht zu sagen eine Blamage für den Rechtsstaa­t.

Während Länder wie Spanien oder Italien Corona halbwegs im Griff haben, ist die Lage in Deutschlan­d von Woche zu Woche schlimmer geworden anstatt besser. Damit wird ein bundesweit­er Lockdown für Ungeimpfte oder ein Lockdown durch die Hintertür mit verpflicht­enden Tests für Genesene und Geimpfte immer wahrschein­licher: Ein Land, das sich nach nichts mehr sehnt als nach Normalität, haftet kollektiv für die organisier­te Umständlic­hkeit seiner Politiker. Bereits im August haben die Gesundheit­sminister über die Dringlichk­eit von Auffrischu­ngsimpfung­en beraten. Passiert ist – nichts. Von den fast 30 Millionen Boostern bis Ende des Jahres, die Angela Merkel den Ministerpr­äsidenten angeblich als Ziel genannt hat, ist Deutschlan­d heute so weit entfernt wie Jens Spahn vom Kanzleramt.

Impftermin­e

sind ein knappes Gut

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