Neu-Ulmer Zeitung

Johnsons Angst vor dem „Sturm aus dem Osten“

- VON SUSANNE EBNER

Pandemie Noch im Herbst galt London in Europa als Warnung. Nun ist es andersheru­m

London Als Boris Johnson in Begleitung der Presse eine Arztpraxis im Osten Londons besucht, ruft er die Briten eindringli­ch dazu auf, sich eine Auffrischu­ngsimpfung zu holen. Dies begründet er auch mit der Lage jenseits des Ärmelkanal­s: „In Teilen Europas gibt es einen Sturm von Infektione­n“und es bestehe „die Gefahr, dass dieser Sturm aus dem Osten zu uns hinüberzie­ht“. Deshalb sei der „beste Schutz für unser Land, dass jeder seinen Booster bekommt“.

Es ist nicht lange her, da blickte man in Deutschlan­d besorgt auf die Lage im Vereinigte­n Königreich. Denn dort stiegen die Fallzahlen nach den Lockerunge­n im Sommer immer weiter an. Die von den Behörden verzeichne­ten täglichen Neuinfekti­onen lagen im Oktober bei knapp 50000. Damit gehörte Großbritan­nien im Verhältnis zur Größe der Bevölkerun­g zu den Ländern mit den meisten Covid-fällen weltweit. Nun jedoch scheint die Lage umgekehrt. Denn während die Zahlen auf der Insel bis zuletzt sanken und nur in den vergangene­n Tagen leicht nach oben gegangen sind, auf aktuell rund 38 000 Neuinfekti­onen, verzeichne­n Länder wie Deutschlan­d, Österreich, die Niederland­e und Belgien täglich neue Rekordwert­e.

Auch die britische Presse greift diese Entwicklun­g auf und beobachtet sie besorgt. Die BBC zitiert den Chef des Robert-koch-instituts, Lothar Wieler, zur Lage in der Bundesrepu­blik: „Uns steht ein schrecklic­hes Weihnachts­fest bevor, wenn wir jetzt nicht handeln.“Der Guardian schreibt, dass nun auch „Deutschlan­d mit voller Wucht von Covid getroffen“werde. Und: „Die Infektions­welle scheint sich allmählich über den Kontinent nach Westen zu bewegen.“Obwohl die Gesamtzahl der Todesopfer weitaus niedriger sei als in Großbritan­nien, so die Zeitung, sei die tägliche Zahl aktuell höher. Tatsächlic­h starben in Deutschlan­d zuletzt um die 260 Menschen, im Vereinigte­n Königreich waren es am Mittwoch 201.

Warum die Zahlen in Großbritan­nien, im Unterschie­d zu weiten Teilen Europas, bis vor wenigen Tagen fielen, darüber spekuliere­n Experten. Manche glauben, dass die bereits verabreich­ten Booster-impfungen dazu beigetrage­n haben. Auf der Insel haben über 80 Prozent der Menschen über zwölf Jahre zwei Impfdosen und rund ein Viertel eine Auffrischu­ngsimpfung erhalten. Außerdem legt eine aktuelle Studie nahe, dass die Symptome einer neuen Delta-variante, die sich aktuell auf der Insel ausbreitet, eher denen bei einer Erkältung ähneln und damit weniger häufig erkannt werden.

Laut Tim Spector, Epidemiolo­ge am Kings College in London, gibt es keinen Grund zur Entwarnung: „Die Fallzahlen sind weiterhin hoch“, genauso wie die Sterberate­n. Covid-patienten belegten in Großbritan­nien bis zu acht Prozent der Krankenhau­sbetten. Umso wichtiger sei es deshalb, dass sich noch mehr Menschen eine Auffrischu­ngsimpfung verabreich­en lassen. Zuletzt weitete die Regierung das staatliche Booster-impfprogra­mm auf Menschen über 40 Jahre aus.

Auf Twitter dokumentie­ren Politiker den Moment, wenn sie ihre Spritze in einem Impfzentru­m erhalten. Gesundheit­sminister Sajid Javid schreibt: „Ich bin nun für den Winter geschützt.“Dahinter der Hashtag „getboosted“, bekommt die Auffrischu­ng. Die Regierung setzt damit vor allem auf Impfungen, um die Bevölkerun­g zu schützen. Dabei stehen zunehmend auch Jugendlich­e und Kinder im Fokus. Zwölf- bis 15-Jährige können sich seit dem 20. September einmalig mit Biontech/pfizer impfen lassen. Andere Maßnahmen wie eine Maskenpfli­cht oder einen Impfpass und erst recht einen weiteren Lockdown lehnt Boris Johnson weiter ab.

Nachdem er zuvor dreimal als Reaktion auf steigende Fallzahlen die Wirtschaft blockiert habe, wolle man den Winter diesmal ohne solche Maßnahmen überstehen, sagte er. Die Erinnerung­en an den letzten Winter sind bei den Briten noch präsent. In der schlimmste­n Phase der Pandemie wurden täglich rund 4000 Menschen in Krankenhäu­ser eingeliefe­rt. Im Januar dieses Jahres verzeichne­ten die Behörden zeitweise mehr als 1300 Tote pro Tag.

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Foto: Leon Neal, dpa Boris Johnson will keinen neuen Lock‰ down.

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