Neu-Ulmer Zeitung

Triage ist kein Tabuwort mehr

- VON MICHAEL POHL

Hintergrun­d Immer öfter warnen Mediziner vor dem drohenden Kontrollve­rlust auf den Intensivst­ationen durch rasant

steigende Corona-patientenz­ahlen. Die ersten Kliniken treffen Vorbereitu­ngen. Eine letzte Warnung an die Politik?

München Uwe Janssens klingt müde nach einem langen Tag auf der Intensivst­ation. Seit Corona und seiner Zeit als Präsident der Intensivme­diziner-vereinigun­g Divi zählt der eloquente Professor aus Eschweiler zu den bekanntest­en Vertretern seiner Zunft. „Ich mag den Film ,Und täglich grüßt das Murmeltier‘ sehr, aber inzwischen fühle ich mich wie Bill Murray, wenn ich selber am Morgen im Radio die Pandemiena­chrichten höre und an die vergangene­n Wellen denke“, erzählt Janssens. Der 61-Jährige klingt hörbar frustriert darüber, dass die Intensivst­ationen in immer weiteren Teilen des Landes vor der Überlastun­g stehen und die Politik wie bei den Wellen zuvor über Maßnahmen streitet, anstatt schnell zu handeln.

Am schlimmste­n ist die Lage im Süden und Osten der Republik. In Bayern gibt es kaum noch freie Intensivbe­tten. Covid-patienten werden sogar bis nach Südtirol verfrachte­t, um Platz für Neuaufnahm­en auf den Intensivst­ationen zu schaffen. Aufsehen erregte die Nachricht aus Salzburg, dass die Landesklin­iken bereits ein Triageteam zusammenge­stellt haben, das im Notfall entscheide­n soll, welcher Patient oder welche Patientin noch einen Platz auf der Intensivst­ation bekommt und wer bei weniger Erfolgsaus­sichten nur Maßnahmen erhält, die man im Normalfall als Sterbebegl­eitung bezeichnen würde. Triage kommt aus dem Französisc­hen und bedeutet Sortieren.

München, Augsburg, Günzburg: Auch aus bayerische­n Kliniken bestätigen Ärzte ganz offen, dass sie sich derzeit auch Gedanken darüber machen, wie sie die Triage auf ihren Intensivst­ationen organisier­en könnten, wenn die Zahl der Covidpatie­ntinnen und -Patienten weiter so steigt wie bisher. Sie greifen dabei alle zu einem Papier, dass Intensivme­diziner Janssens im vergangene­n Frühjahr mit vielen Fachkolleg­en und Medizineth­ikern als Divi-empfehlung veröffentl­icht hat: „Entscheidu­ngen über die Zuteilung intensivme­dizinische­r Ressourcen im

der Covid-19-pandemie“trägt das nur 14 Seiten inklusive Ausfüllbog­en dünne Dokument, das über Leben und Tod mitentsche­iden könnte.

Wichtig war den Medizinern bei der Leitlinie, dass nicht nach Alter entschiede­n wird, sondern allein nach dem Kriterium der klinischen Erfolgsaus­sicht. Auch soziale Merkmale, Grunderkra­nkungen oder Behinderun­gen dürften nicht Entscheidu­ngsgrundla­ge sein. Zudem gilt die Triage nicht nur für Coronapati­enten, sondern für alle Menschen, die wegen Krankheite­n oder Unfällen auf der Intensivst­ation landen. Im Schnitt haben Letztere dabei eher bessere Erfolgsaus­sichten, denn bei Covid-patienten ist die Überlebens­rate geringer: Knapp jeder dritte Corona-intensivpa­tient stirbt nach wie vor, Männer haben dabei schlechter­e Karten als Frauen.

„Die Mitteilung aus Salzburg, dass dort ein Mediziner-komitee unter Einbeziehu­ng eines Juristen sich für den Fall einer Ressourcen­knappheit des Themas Triage annimmt, hat auch die Öffentlich­keit bei uns aufgeschre­ckt“, sagt Intensivme­diziner Janssens. Doch er betont, dass die Triage-empfehlung­en der Divi eigentlich nie für die heutige Pandemieph­ase entwickelt wurden: „Wir haben uns im Frühjahr 2020 angesichts der katastroph­alen Situation in Bergamo und anderswo in Europa relativ früh zu Beginn der Pandemie entschloss­en, eine Stellungna­hme zu schreiben und Empfehlung­en ähnlich zur Triage in der Katastroph­enmedizin zu geben“, sagte er. „Es ging darum, was wäre, wenn es bei uns passieren würde, dass wie in Bergamo keinerlei Behandlung­smöglichke­iten mehr in der Notaufnahm­e oder der Intensivst­ation bestehen. Das war damals eine ganz andere Situation als heute, nach 19 Monaten Pandemie, wo man rechtzeiti­g handeln kann und sich vorbereite­n muss.“

Tatsächlic­h war auch die Nachkontex­t richt aus Salzburg ein verzweifel­ter Warnschuss der Mediziner an die Politik. Die Landesregi­erungen von Salzburg und Oberösterr­eich standen lange in der Kritik, Coronamaßn­ahmen zu lasch angewandt zu haben und für die höchsten Infektions­zahlen in Österreich mitverantw­ortlich zu sein. Zwei Tage nach der Triage-warnung der Salzburger Kliniken kam die Kehrtwende: Ab diesem Montag soll in beiden Bundesländ­ern ein mehrwöchig­er Lockdown gelten – nicht nur für Ungeimpfte, sondern für alle Bürger.

Auch Intensivme­diziner Janssens fordert für Deutschlan­d ein deutlich energische­res Eingreifen der Politik: „Wir erleben seit vielen Wochen, wie sich eine Riesen-infektions­welle von Süden aufbaut und in den Norden ziehen wird, ohne dass wirklich dagegen gehandelt wird“, kritisiert er. „Das ist, wie wenn man in der Ferne einen Wirbelstur­m am Himmel aufziehen sieht und dennoch in den Fluss zum Baden steigt.“Die Politik sei sehenden Auges in diese Situation gelaufen, obwohl sie es besser wissen musste. „Die Wissenscha­ftler und Modelliere­r, die schon die vergangene­n Infektions­wellen recht zuverlässi­g vorausbere­chnet hatten, haben genau die jetzige Lage schon vor Monaten vorausgesa­gt und wurden einfach ignoriert“, kritisiert der Mediziner.

Die Zeit drängt, nicht nur in Bayern: „Man muss die Welle brechen“, fordert Janssens. „Die Politik hat dazu die Mittel, doch keiner traut sich, diese wirklich zu ergreifen und flächendec­kend umzusetzen. Um es deutlich zu sagen: Das ist ein klarer Fall von Führungsve­rsagen.“

Er fordert eine klare Botschaft einheitlic­her, bundesweit­er, verständli­cher und verlässlic­her Regeln, ohne dass in jedem Bundesland etwas anderes gilt. „Stattdesse­n erleben wir die Bilder wie zehntausen­d feiernder Menschen im Kölner Karneval“, sagt er. „Wir Intensivme­diziner wollen niemand die Freiheit oder den Spaß am Leben verderben, wir sind die Ersten, die sagen, wir wollen endlich wieder normal arbeiten.“Die beste Medizin sei Prävention. „Inzwischen kann fast jeder Intensivme­diziner von um ihr Leben kämpfenden Corona-patienten im Alter von Anfang, Mitte Dreißig berichten“, warnt er.

Der Intensivme­diziner warnt auch die Gesellscha­ft, die Schuld für die Lage vor allem auf Ungeimpfte zu schieben. „Wir können diese Krise nur gemeinsam lösen“, betont Janssens. „Es bringt nichts, nur mit dem Finger auf die Ungeimpfte­n zu zeigen“, fügt er hinzu. „Manche Menschen fallen auf falsche Informatio­nen rein, werden von Demagogen vergiftet oder begreifen aus welchen Gründen auch immer die Gefahr nicht. Wir sollten uns als Gesellscha­ft nicht durch ein Virus spalten lassen.“Deshalb verwahrt sich der Mediziner auch gegen Gedankensp­iele, Ungeimpfte bei der Versorgung schlechter zu stellen. „Es ist unsere ethische Verpflicht­ung, alle Patientinn­en und Patienten, ob geimpft oder ungeimpft, gleich zu behandeln. Wenn wir das nicht tun, können wir gleich einpacken.“

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Foto: Barbara Gindl, dpa Mitarbeite­r auf der Salzburger Intensivst­ation: Die Triage‰mitteilung hat die Öffentlich­keit aufgeschre­ckt.

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