Als die Feuerwehr mit dem Hubschrauber flog
Zeitgeschichte Ab 1974 flogen Ulmer Feuerwehrleute mit dem Notarzt zu Einsätzen. Über eine Pionierzeit, neue Entwicklungen und das Ende einer einzigartigen Zusammenarbeit
Ulm Den spektakulärsten Einsatz kann Peter Mayer immer noch nacherzählen, als läge er erst ein paar Tage zurück. Es ist der 12. Juni 1976, als zwei Ulmer Feuerwehrmänner mit dem Rettungshubschrauber der Bundeswehr zum Truppenübungsplatz nach Münsingen fliegen, wo ein Kanonenjagdpanzer über eine vier Meter hohe Böschung gerutscht ist. Elf Jahre lang gehen die Retter mit an Bord des Helikopters, um Menschenleben zu retten. Es ist ein bundesweit einzigartiges Projekt. Ein Projekt, für das die Ulmer sogar neue Technik selbst entwickelten.
Im November 1971 wurde auf Drängen des Professors und Oberstarztes Friedrich Wilhelm Ahnefeld ein Hubschrauber in Ulm stationiert, mit dem medizinisches Personal der Bundeswehr zu Unfällen flog, um Menschenleben zu retten. Gurte waren in den Autos noch nicht generell üblich, und wenn zwei Fahrzeuge frontal zusammenstießen, wurde meist bis zur Lenksäule alles ins Wageninnere geschoben. Die Feuerwehrleute mussten Unfallautos mithilfe der Feuerwehrfahrzeuge auseinanderziehen und eingeklemmte Unfallopfer mit der Säge oder dem Trennschleifer befreien. Die Ulmer Feuerwehr schaffte sich im Mai 1973 als erste in Europa einen hydraulischen Rettungsspreizer an – die damals in Ulm gegründete und heute in Biberach ansässige Firma Grenz hatte diese Geräte in Deutschland auf den Markt gebracht. Weil die Ulmer nun in weitem Umkreis die Einzigen mit der entsprechenden Ausrüstung waren, entstand die Kooperation mit der Bundeswehr.
Am 29. August 1974 fordert das Bundeswehr-rettungszentrum die Hilfe der Feuerwehr Ulm an, bei einem Unfall in Dischingen im Kreis Heidenheim ist ein Mensch eingeklemmt. Ein Ford Transit der Feuerwehr bringt Peter Mayer und die Ausrüstung zur Wilhelmsburgkaserne, wo der Hubschrauber stationiert ist. Weil Rettungsspreizer, Hydraulikaggregat und Stromerzeuger mehr als 100 Kilo wiegen, kann nur ein Feuerwehrmann mit an Bord. „Die Feuerwehr war darauf nicht vorbereitet“, erinnert sich Mayer. Nach dem ersten Einsatz ist klar: Eine andere Lösung muss her. Schon einen knappen Monat später besorgen die Ulmer ein leichteres Gerät mit einem benzinbetriebenen Motor. Peter Mayer, damals in seinem ersten Jahr als Berufsfeuerwehrmann, entwickelt außerdem eine Hochdruckschlauchhaspel – ein Hilfsmittel, um die Schläuche aufund abwickeln und dadurch flexibler arbeiten zu können. „Die technische Seite hat mich sehr interessiert“, berichtet der Oberamtsrat im Ruhestand, der in Neu-ulm lebt.
Im Jahr 1976 geht es richtig los, mit vier Einsätzen. Die Feuerwehr ist technisch besser gerüstet, jetzt brechen drei Mann von der Feuerwache aus in einem Ford Granada zu den Einsätzen auf. Die zwei schnellsten dürfen auf dem Kasernengelände an Bord des Helikopters, der dritte holt seine Kollegen mit dem Auto vom Einsatzort ab – den Platz im Rettungshubschrauber braucht man auf dem Rückweg fast immer für das Unfallopfer. In den Folgejahren wird die Zahl der Rettungsflüge mit der Feuerwehr zweistellig. Bis das Bundeswehrkrankenhaus fertig ist. Der Rettungshubschrauber startet jetzt von dort aus. Der Weg der Feuerwehrleute ist weiter als zuvor, die Notärzte müssen auf sie warten. Gleichzeitig schaffen sich andere Wehren bessere Ausrüstung an. Die fliegenden Feuerwehrmänner sind nicht mehr so unverzichtbar, wie sie es jahrelang waren. 1985 sind sie letztmals mit an Bord. Ein Jahr darauf zieht Peter Mayer in einem Bericht für das Innenministerium in Stuttgart Bilanz. Das Modell habe sich bewährt, schreibt er. Kernpunkt sei aber die Zeit für die Fahrt von der Wache zum Landeplatz.
Doch für den Rückgang der Einsatzzahlen gab es noch einen weiteren Grund: Weil die Ulmer ohne Anforderung auch in anderen Landkreisen Opfern halfen, gingen Beschwerden bei der Rettungsleitstelle ein – „z. T. massiv“, steht im Bericht aus dem Sommer 1986. Die örtlichen Feuerwehren wollten ihre Einsätze selbst bestreiten. Peter Mayer bedauert, dass die Flüge für ihn und seine Kollegen endeten. „Es war eine hochinteressante Phase“, sagt der heute 77 Jahre alte Mann. In seinem Bericht aus dem Jahr 1986 nennt er die gemeinsamen Flüge zudem „die günstigste Ausgangssituation für einen Rettungseinsatz“. Alle Helferinnen und Helfer sind gleichzeitig da, medizinische Versorgung und technische Hilfe gehen Hand in Hand. „Es war eine vertrauensvolle und gemeinschaftliche Tätigkeit“, erinnert er sich.
So wie im Fall des Panzers. Der gerät an einem Samstag im Juli 1976 auf abschüssiger Straße ins Schleudern, stürzt über eine Böschung und trifft mit dem Kanonenrohr einen Baum. Das Rohr wird ins Innere des Fahrzeugs geschoben und klemmt den Panzerkommandanten ein. Um 19.48 Uhr erreicht der Rettungshubschrauber den Truppenübungsplatz Münsingen im Kreis Reutlingen, wo der Unfall passiert ist. Was sie dort erwartet, erfahren Peter Mayer und sein Feuerwehrkollege erst unterwegs. Drei weitere Soldaten werden gerettet und behandelt, der Fähnrich bleibt eingeklemmt. Mayer weiß noch, was der Notarzt Dr. Bodo Gorgaß irgendwann immer häufiger sagte: „Ihr müsst euch jetzt beeilen!“Die Hitze im Panzer ist brütend, im Einsatzbericht der Feuerwehr ist von 40 bis 50 Grad die Rede. Das Werkzeug der Einsatzkräfte stößt im Panzer an seine Grenzen. Dann gibt ein Waffenmeister den entscheidenden Tipp, wo der Spreizer angesetzt werden muss. Das Rohr hebt sich und schnellt in die Führung zurück. An den Knall, sagt Peter Mayer, erinnert er sich bis heute. Nach anderthalb Stunden Arbeit ist der Fähnrich frei, er wird in die Uniklinik geflogen. Sein linker Unterschenkel muss amputiert werden. Hätte die Feuerwehr keinen Erfolg gehabt, dann wäre dem Mann bei einer Notamputation am Unfallort wohl das ganze Bein abgenommen worden.
136-mal heben Ulmer Feuerwehrleute mit dem Rettungshelikopter ab, auf das Kennwort „Hubschraubereinsatz“hin brechen sie von der Wache aus auf. Die Einsatzorte liegen rund 20 bis 40 Kilometer entfernt, da ist der Flug schneller als die Fahrt auf dem Landweg. Als die gemeinsamen Flüge enden, behält die Ulmer Feuerwehr ihren Hubschrauber-rettungssatz als Ersatz und für Einsätze an schwer zugänglichen Orten.
Peter Mayer geht 2004 in den Ruhestand. Der Rettungssatz steht heute in der Feuerwache in der Keplerstraße. An der Wand dahinter erinnern Schautafeln an die Helfer aus der Luft.