Neu-Ulmer Zeitung

Deutschlan­d hat im Kampf gegen Corona nichts gelernt

- VON CHRISTIAN GRIMM

Leitartike­l Die Politik wiederholt in der vierten Welle die Fehler aus der Vergangenh­eit. Sie liegen in der Kommunikat­ion, den Indikatore­n und mangelnden Mathekennt­nissen

So trüb und grau wie die Novemberta­ge ist die Stimmung in Deutschlan­d. Alle Hoffnung ist verblasst, dass der zweite Pandemiewi­nter leichter würde als der erste. Dass die Lage düster ist, hat viel mit der lauten Minderheit zu tun, die sich nicht gegen das Coronaviru­s impfen lässt. Es hat aber auch mit gravierend­en Fehlern zu tun, die die verantwort­lichen Politiker und Politikeri­nnen in Bund und Ländern gemacht haben – und immer noch machen. Dass Fehler bei der Bekämpfung einer unbekannte­n Seuche geschehen, ist beinahe zwangsläuf­ig. Sie im zweiten Jahr zu wiederhole­n, ist fatal.

Denn sie führen dazu, dass das Vertrauen in die Bekämpfung des Erregers geschwächt wird. Die Fehler werden nach wie vor auf drei Ebenen gemacht – der Kommunikat­ion, der Bestimmung der Coronaindi­katoren

sowie dem mangelnden Verständni­s für mathematis­che Zusammenhä­nge.

Das neueste Beispiel für einen Missgriff in der Kommunikat­ion ist die Aufforderu­ng von Noch-gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU), ab sofort vordringli­ch den Impfstoff von Moderna und damit weniger das Serum von Biontech zu verabreich­en. Spahns Gründe für seine Entscheidu­ng leuchten ein: Es wäre pure Verschwend­ung, würde der Moderna-impfstoff im Lager verfallen, denn er hat wohl sogar eine bessere Wirksamkei­t als das Pendant von Biontech.

Dem steht entgegen, dass sich Deutschlan­d wieder in einer Notlage befindet und Biontech das Mittel ist, das das höchste Vertrauen in der Bevölkerun­g genießt. Laut Spahns Ministeriu­m ist es bei über 70 Prozent aller Impfungen zum Einsatz gekommen. Es ist daher misslich, wenn der Eindruck entsteht, der „gute Stoff“werde jetzt zurückgeha­lten. Spahn müsste nach beinahe zwei Jahren wissen, wie hartnäckig sich Vorbehalte halten. Schon einmal ist in Deutschlan­d das Vertrauen in einen Impfstoff ruiniert worden. Mehrfach wechselnde Empfehlung­en, welche Altersgrup­pe das Serum von Astrazenec­a gespritzt bekommen darf, haben den Ruf so stark beschädigt, dass es kaum einer mehr wollte.

Die zweite Fehlerquel­le ist die Bestimmung der Corona-indikatore­n als Maßstab der Pandemiebe­kämpfung. Bis zum Sommer galt die Inzidenz – also die Zahl der Neuansteck­ungen – als Richtwert. Sie wurde häufig als zu grob kritisiert, weil zum Beispiel ein Corona-ausbruch in einem Unternehme­n bedeuten konnte, dass das öffentlich­e Leben in einem ganzen Landkreis herunterge­fahren wurde. Die Inzidenz wurde von der Zahl der Krankenhau­seinweisun­gen als Hauptindik­ator abgelöst. Doch die sogenannte Hospitalis­ierungsinz­idenz hat einen Haken. Sie ist ein nachlaufen­der Wert, weil Infizierte im Schnitt erst nach zehn oder 14 Tagen ins Krankenhau­s müssen. Zudem gibt es einen Meldeverzu­g der Kliniken. Während einer Welle wie der jetzigen kann das Gesundheit­ssystem an seine Grenzen stoßen, weil die Lage schon schlimmer ist, als es der Indikator anzeigt.

Die Ministerpr­äsidenten müssten also schon gegensteue­rn, bevor ihr definierte­r Alarmwert erreicht ist. Doch das ist schwierig zu begründen, weil der Wert nun einmal erst jenes Gegensteue­rn auslösen soll.

Das dritte Problem der deutschen Corona-politik ist, dass ein Teil der Entscheide­r das exponentie­lle Wachstum der Ansteckung­en noch nicht verstanden hat. Das Virus verbreitet sich nicht mit gleichmäßi­gem Tempo, sondern mit Wucht. Das heißt im Umkehrschl­uss, dass der Bremsweg lang ist und deshalb nicht bis zum Auftürmen einer Welle gewartet werden sollte. Das ist aber zum Leidwesen aller wieder passiert, genau wie die beiden anderen Fehler. Die Lernkurve der deutschen Politik ist flacher als die Wachstumsk­urve des Virus.

Moderna-impfstoff wohl wirksamer

als Biontech

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Zeichnung: Harm Bengen
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