Neu-Ulmer Zeitung

Der Zauderer muss zupacken

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Porträt Der sächsische Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) ist neben Markus Söder der erste Landeschef, der in seinem Land das Leben herunterfa­hren muss

Wer in Michael Kretschmer­s Gesicht blickt, kann sehen, wie hart der Kampf gegen Corona ist. Tiefe Augenringe, eine ungesunde Blässe und ein mürrischer Ausdruck sprechen Bände. In der vierten Welle liegt das Virus wieder klar vor Kretschmer, wenn man den Kampf als Duell begreifen will. Wie in den Runden davor hat Kretschmer gezögert und gezaudert, hat gemahnt und appelliert. Er schaute zu, wie der Erreger über den Sommer wieder stärker wurde und nun so stark ist, dass den Krankenhäu­sern in Sachsen der Zusammenbr­uch droht.

In der Notlage hat der CDUMANN entschiede­n, das öffentlich­e Leben herunterzu­fahren. Ab Montag gilt: Kinos zu, Klubs zu, Theater zu, Fitnessstu­dios zu. Hotels und Ferienwohn­ungen müssen dichtmache­n. Für die Sachsen besonders bitter ist die Absage der Weihnachts­märkte. Budenzaube­r mit Bratwurst, Glühwein, Engeln, Räucherman­n und Nussknacke­r sind für die Leute so wichtig wie die Volksfeste in Bayern.

Kretschmer versucht es jetzt wieder mit Härte. Das böse Wort Lockdown vermeidet er und spricht vom Wellenbrec­her. Nur kurz zuvor hatte er noch darauf gesetzt, dass ein 2G-konzept reichen würde, um das Coronaviru­s einzudämme­n. Als er es ankündigte, war es bereits von der Realität überholt. Der Ministerpr­äsident regiert dem Erreger hinterher. Er ist ein Gehetzter, aber damit nicht allein unter seinesglei­chen.

Was den 46-Jährigen von den anderen Landeschef­s unterschei­det, ist die Störrischk­eit seiner Landsleute beim Impfen. Der Freistaat im Osten hat die niedrigste Impfquote aller Bundesländ­er. Nur knapp über die Hälfte der Menschen hat sich die schützende Spritze geben lassen. In den Tälern und Höhen des Erzgebirge­s sieht es so duster aus wie in den Schächten der alten Bergwerke. Woher das schlecht gelaunte Dickschäde­ltum rührt, ist gar nicht so leicht zu sagen. Es ist eine Mischung aus enttäuscht­en Wendehoffn­ungen, dem Gefühl des Abgehängts­eins in der alt gewordenen Provinz und dem legendären Stolz der Sachsen, der Herrschaft eine lange

Nase zu drehen. Michael Kretschmer hat sich früh vorgenomme­n, sachlich und höflich zu bleiben, wenn ihn Zorn und Wut von Querdenker­n, Corona-leugnern und Impfgegner­n treffen. Als vor einigen Monaten ein Häufchen Lautstarke­r vor seinem Häuschen bei Zittau protestier­te, stellte er sich den Männern und Frauen. Kretschmer war gerade beim Schneeschi­ppen. Das Anhören aller hat er zu seiner Methode gemacht. Im Wahlkampf 2019 tingelte er von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf. Alle konnten ihm ihre Sorgen vortragen, ihre Geschichte­n erzählen. Der Ministerpr­äsident ließ sich beladen und schon damals stand ihm die Strapaze ins Gesicht geschriebe­n. Der Politiker als Seelenklem­pner. Schon im Juli diagnostiz­ierte er die seelische Überforder­ung durch Corona.

Christian Grimm

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