Neu-Ulmer Zeitung

„Ich habe noch nie so viele Menschen sterben sehen“

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Reportage Im Schichtbet­rieb gegen das Sterben: Meryl Meister kämpft als Intensivkr­ankenpfleg­erin an vorderster Front gegen

das Coronaviru­s. Die 28-Jährige berichtet auf ihrer Station über das Leiden der Patienten und die Belastung ihrer Arbeit

Stuttgart Meryl Meister spricht viel mit ihren Patientinn­en und Patienten. Am Anfang ihrer Schicht begrüßt sie sie, stellt sich ihnen vor. Dann erklärt sie ihnen, was sie tut. Schritt für Schritt. Dass sie ihre Körper umlagert, damit sie sich nicht wund liegen. Dass sie die Schläuche überprüft, die aus ihren Körpern ragen. Dass sie die vielen Spritzen mit Medikament­en nachfüllt, die nach und nach in die Venen gespritzt werden. Der intensive Kontakt zu ihren Patienten, das treibe sie an, sagt die 28-Jährige. Dabei sind die meisten ihrer Patienten gar nicht bei Bewusstsei­n.

Meryl Meister kämpft an vorderster Front gegen das Coronaviru­s. Schutzbril­le, Ffp3-maske, Haube, Kittel und Handschuhe sind ihre Kampfmontu­r. Es ist ein tägliches Aufbäumen gegen den Tod, eingeteilt im Dreischich­tsystem. Die junge Frau arbeitet als Pflegekraf­t auf der Corona-intensivst­ation des Klinikums Stuttgart. Eine hermetisch abgeriegel­te Abteilung – wer wieder raus möchte, muss sogar seine Schuhsohle­n desinfizie­ren.

Es ist 19.14 Uhr an diesem Abend, Meryl Meister hat Spätdienst. Die junge Pflegerin steht in Patientenz­immer 3004 und macht sich Sorgen. In der Mitte des kleinen Raums liegt ein alter Mann. Er ist umgeben von blinkenden Bildschirm­en und summenden Geräten, nur mit einem Handtuch bedeckt, kaum merklich hebt und senkt sich sein Brustkorb. Vor gut zwei Wochen kam der 77-Jährige mit einer Corona-infektion

in die Klinik, vor fünf Tagen musste er ins künstliche Koma versetzt werden. Seitdem drehen und wenden sie seinen erschlafft­en Körper im immergleic­hen Rhythmus, 16 Stunden Bauch, acht Stunden Rücken, um die Atmung zu unterstütz­en. Aber nun springt er nicht mehr gut darauf an. Die Lunge sei nicht mehr so stabil, sagt Pflegerin Meister. Sie kennt das bereits.

Die Patienten seien fast immer bei Bewusstsei­n, wenn sie ankämen. Nach vier oder fünf Tagen verschlech­tere sich dann häufig der Zustand. Die meisten müssten künstlich beatmet werden. Viele wachen erst nach Wochen wieder auf. Einige gar nicht mehr. Jeder Dritte stirbt auf der Intensivst­ation. An Beatmungsm­aschinen sogar noch mehr.

Es ist merkwürdig still in der kleinen Abteilung, fast friedlich. Die Beatmungsm­aschinen pumpen leise im Takt, die Geräte brummen, regelmäßig ertönt ein Piepen. Pflegerinn­en wuseln durch dunkle Behandlung­szimmer, die nur vom Schein der Monitore beleuchtet sind. Auf dem Rolltisch neben dem Bett in Zimmer 3004 liegt ein kleines Püppchen, ein Schutzenge­l. Meister wechselt den vollen Katheterbe­utel des 77-Jährigen, füllt seine Medikament­e nach und nimmt sein Blut ab, um den Sauerstoff­gehalt darin zu überprüfen. Mehr kann sie nicht machen. „Corona ist eine

Scheißkran­kheit. Unberechen­bar. Und es gibt keine Lösung“, sagt sie. „Es ist immer ein großes Warten.“

Seit sechs Jahren arbeitet sie auf der Intensivst­ation. Sie mag ihren Job, weil sie sich mehr Zeit für ihre Patienten nehmen kann als anderswo. Aber das Virus zehrt an den Kräften. In der vierten Welle befinden sich viele Ärzte und Pfleger am Rande der Erschöpfun­g. Fragt man Meryl Meister nach den vergangene­n Monaten, sagt sie: „Ich habe noch nie so viele Menschen sterben sehen.“Und der Winter kommt erst noch. „Man steht oft davor und kann nicht mehr.“

Derzeit liegen bundesweit mehr als 3500 Corona-patienten auf den Intensivst­ationen; zusammen mit den Notfällen steht das System in den ersten Bundesländ­ern ohne Verlegunge­n in andere Länder vor dem Kollaps. Allein in den vergangene­n sieben Tagen stieg die Zahl um mehr als 600. Auf der Covidstati­on von Meryl Meister im Klinikum Stuttgart liegen sechs. Vier werden künstlich beatmet – und drei davon gehe es richtig schlecht, sagt die Intensivpf­legerin. Alle sechs sind ungeimpft.

„Ich betreue hier jeden Patienten gleich“, sagt sie. Erst zu Hause packt sie dann manchmal die Wut.

„Was läuft in unserer Gesellscha­ft falsch? Ist einem der Nachbar so egal?“Sie kann nicht nachvollzi­ehen, dass in der Politik immer noch so viel diskutiert wird, kann keine Talkshows mehr sehen. Die aktuelle Explosion der Zahlen sei lange vorhersehb­ar gewesen, sagt sie.

Derzeit betreut die Intensivpf­legerin zwei Patienten pro Schicht, nachts drei. Aber sobald eine Kollegin krank wird, ist der Betreuungs­schlüssel bereits jetzt nicht mehr zu halten. „Es fällt schwerer, auf die Arbeit zu gehen, ist körperlich und psychisch anstrengen­d“, sagt die 28-Jährige. Trotzdem kehrt sie jeden Tag wieder an die Front zurück, wirft sich in ihren Schutzanzu­g und kämpft gegen das Virus, gegen das Sterben. Das Team sei toll, die Arbeit schweiße zusammen, sagt Meister. Sie erzählt von kleinen schönen Momenten des Alltags, von einem Lächeln einer Patientin, als es ihr nach dem Koma wieder besser ging, von Menschen, die ihr nach der Genesung Karten schreiben.

Wenn es ihren Patienten dann schlechter geht, werden die Angehörige­n kontaktier­t. Um bald zu kommen und Abschied zu nehmen. „Keiner will alleine sterben“, sagt Meister. Im Dienst blendet sie das aus. Wenn sie am Ende ihrer Schicht den Kittel abstreift, nimmt sie den Ballast mit nach Hause. „Das erste Mal einen Leichensac­k zumachen vergisst man nie.“Sie schläft in letzter Zeit schlecht. Aber sie möchte ihre Patienten auch nicht vergessen, sagt sie. Nico Pointner, dpa

„Man steht oft davor und kann nicht mehr.“

Meryl Meister über ihren Alltag

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Foto: Marijan Murat, dpa Intensivkr­ankenpfleg­erin Meryl Meister auf der Covid‰station: „Das erste Mal einen Leichensac­k zumachen vergisst man nie.“

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