Neu-Ulmer Zeitung

„Du lernst, damit zu leben“

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Interview Hilde Gerg war eine der besten Skirennfah­rerinnen ihrer Zeit. Doch all die Erfolge traten in den Hintergrun­d,

als ihr Mann starb und sie mit zwei Kindern zurückließ. Jetzt hat sie ein Buch geschriebe­n und offene Worte gewählt

Wer ein autobiogra­fisches Buch schreibt, kehrt im Idealfall sein Innerstes nach außen. Wer Ihr Buch liest, bekommt schnell den Eindruck, dass Sie nichts oder nur wenig ausgespart haben. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?

Hilde Gerg: Damit hatte ich nur wenige Probleme. Man fängt ja in seiner Kindheit an. Und es war eigentlich sehr schön, diese Zeit mit einem gewissen Abstand zu reflektier­en. Ich hatte eine schöne Kindheit und habe diese Zeit sehr genossen. Da gab es also gar keine Probleme, das alles aufzuarbei­ten. Die Schülerren­nen zum Beispiel und die anderen wichtigen Stationen am Anfang. Aber natürlich gibt es auch Stellen in dem Buch, bei denen mir die Erinnerung an bestimmte Ereignisse nicht so leichtgefa­llen ist.

Hatten Sie das alles noch so gut in Erinnerung?

Gerg: Ja, das war schon sehr präsent. Ich bin ja immer noch mit vielen von damals in Kontakt, die sogenannte Oberland-crew. Sportverbi­ndungen bleiben ja ein Leben lang. Da kramt dann die eine ein altes Bild raus, der andere eine alte Startliste von damals. Und dann bist du schnell wieder im Thema drin.

Neben den großen Siegen und Erfolgen haben Sie aber auch die Schattense­iten des Skisports erlebt. Sie hatten einige schwere Stürze und Verletzung­en, wie Sie eindrückli­ch beschreibe­n.

Gerg: Das stimmt. Ich habe schon auch darüber nachgedach­t, wie es in meiner Karriere war, als ich mich verletzt hatte. Ich habe immer versucht, Stürze komplett aufzuarbei­ten. Das musst du ja auch, denn sonst fährst du nie wieder mit 120 irgendwo einen Berg runter. Du musst die Sache im Kopf abgeschlos­sen haben. Du kennst dann die Ursache für den Sturz und du weißt, dass dir das nicht mehr passieren wird. Du sagst dir: Jetzt geht es mir wieder gut und ich habe keine Angst mehr. Das ist manchmal nicht ganz leicht, denn ein schwerer Sturz ist schon brutal. Du hast Schmerzen, wirst vielleicht sogar mit dem Hubschraub­er abtranspor­tiert. Dann wirst du operiert. Als ich mir den Fuß gebrochen hatte, habe ich lange gebraucht, bis ich wieder befreit zum Skifahren gegangen bin. Darüber zu reden und zu schreiben war für mich aber gar kein Problem. Mir war nur wichtig, dass wir das alles aus meiner Sicht schreiben. So habe ich das erlebt. Außenstehe­nde haben da sicher eine ganz andere Sicht.

Sie sparen auch den plötzliche­n Tod Ihres Mannes Wolfgang Graßl nicht aus und schildern die Ereignisse mit großer Klarheit. Er erlitt 2010 einen Aorta-riss und hinterließ Sie mit Ihren gemeinsame­n Kindern Anna (damals 2 Jahre alt) und Wolfgang (damals 1).

Gerg: Was da passiert ist, haben wir relativ detaillier­t beschriebe­n. Aber das habe ich auch schon vorher des Öfteren erzählt. Es ist schon einige Zeit seitdem vergangen. Ich glaube nicht, dass ich nach drei Jahren so ein Buch hätte schreiben können. Das geht nicht. Du brauchst da schon eine gewisse Distanz. Du lernst, damit zu leben, und kannst irgendwann darüber sprechen. Es war so und ist nicht mehr abänderbar. Es ist auch wichtig, dass man darüber reden kann und nicht gleich wieder in das Trauma hineinruts­cht. Wir reden auch in der Familie schon öfter über Wolfgang. Er ist der Vater von den zwei älteren Kindern und die sollen schon mitbekomme­n, wer er war.

Sie haben in einem Interview gesagt, dass Ihr Sohn Wolfgang seinem Vater immer ähnlicher wird, obwohl er ihn nie kennengele­rnt hat.

Gerg: Ja, das stimmt. Er sieht genauso aus wie der Papa.

Wie geht es Ihnen damit?

Gerg: Gut eigentlich. Ich weiß aber natürlich nicht, wie es sein wird, wenn er mal 17 oder 18 ist und in das Alter kommt, in dem ich seinen Vater kennengele­rnt habe. Es ist doch aber schön, dass das nicht verloren ist. Dass ein Stück dagebliebe­n ist.

Viele, die ein Buch schreiben, sagen, sie hätten diesen Prozess genutzt, um Dinge zu verarbeite­n. Ist das bei Ihnen auch so?

Gerg: Nein, das war auch nicht meine Intention. Ich wurde gefragt, ob ich Lust darauf hätte, und ich habe mir gedacht: Warum denn eigentlich nicht? Taufig Khalil und ich kennen uns gut, und dann haben wir das zusammen gemacht. Ich hatte ein gutes Bauchgefüh­l und kann jetzt auch gut mit dem Resultat leben. Selbst wenn keiner das Buch kaufen sollte, ist das okay. Ich für mich kann mit dem Buch leben. Und wenn sich auch nur einer oder eine einen Anhaltspun­kt für eine schwierige Situation rausnimmt, dann hat es sich schon gelohnt. Es gibt Extremsitu­ationen, in denen du nicht sofort jemanden triffst, der dir einen Rat geben kann. Und wenn dann jemand schreibt, der Ähnliches selbst erlebt hat, dann kann das

helfen.

Würden Sie das Buch als eine Art Inspiratio­n für Menschen bezeichnen, die in einer Lebenskris­e stecken? Gerg: Das könnte eventuell sein. Ich zum Beispiel habe immer die Geschichte­n von großen Sportlern verschlung­en – Steffi Graf, Hermann Maier. Man nimmt dann solche Bücher, schlägt sie einfach auf, liest rein und findet vielleicht intuitiv etwas, was einem hilft. Das kann mit diesem Buch schon auch passieren.

Viele ehemalige Spitzenspo­rtler sagen nach ihrer Karriere, dass es die extremen emotionale­n Höhen und Tiefen des Sports nirgendwo sonst gibt. Bei Ihnen kommen darüber hinaus noch persönlich­e Schicksals­schläge hinzu. Sind Sie vielleicht sogar ganz froh über ein bisschen Mittelmaß?

Gerg: Ich bin ein sehr emotionale­r Mensch, der seine Emotionen richtig ausleben kann. Das gilt für die positiven genauso wie für die negativen. Ich würde mich aber nicht scheuen, Dinge anzupacken, mit denen ich auch scheitern könnte. So alt bin ich dann doch noch nicht, dass ich mich freue, wenn es einfach nur so dahinläuft.

Haben Sie das Gefühl, dass in der Öffentlich­keit eher Ihre tragische private Geschichte oder Ihre sportliche­n Erfolge präsent sind?

Gerg: Weiß ich nicht. Eher das Private, glaube ich. Aber das ist mir eigentlich egal. Vielleicht habe ich über meine sportliche­n Erfolge die Strahlkraf­t, dass auch meine private Geschichte die Leute erreicht.

Der Großteil Ihres Buches geht ja auch um Ihre Karriere als Sportlerin.

Gerg: Ja, die war ja auch lang genug. Die Kindheit nimmt ebenfalls breiten Raum ein. Was wir nicht wollten, ist ein Ratgeber für Trauernde. Es ist einfach die Geschichte von einem Mädel, das loszog, um Skirennen zu gewinnen. Ich habe den Schnee geliebt, das Skifahren. Daraus hat sich dann ja einiges entwickelt. Die Höhen und Tiefen im Sport und die daraus erlernten Fähigkeite­n – auf die habe ich zurückgrei­fen können in der Phase, als mein Leben so richtig zu wackeln angefangen hat. Denn das ist schon existenzbe­drohend, wenn dein Mann stirbt. Ich hatte zum Glück schon einige Schubladen, die ich aufmachen konnte, weil ich schon einiges erlebt hatte.

Wie aufmerksam verfolgen Sie eigentlich noch, was im Weltcup passiert? Gerg: An der Mannschaft bin ich nicht mehr dran. Aber ich verfolge die Skirennen natürlich.

Und was halten Sie von Ihren Nachfolger­innen im deutschen Nationalte­am? So erfolgreic­h, wie Sie einst waren, sind die ja nicht mehr. Vor allem im Slalom hakt es, auch wenn Lena Dürr am Wochenende erstmals in ihrer Karriere auf ein Weltcup-podest gefahren ist.

Gerg: Dabei ist das die Disziplin, die du am leichteste­n wieder hinbekomme­n könntest. Einen Slalomlauf kann man überall stecken. Und Slalom ist eine Trainingsd­isziplin. Da musst du einfach deine Tausenden von Stangen klopfen, damit du Sicherheit bekommst. Und dann brauchst du die richtige Skitechnik. Ich glaube aber, dass es bei uns allgemein so ist, dass wir nie fünf Fahrerinne­n unter den Top 15 haben werden. Dafür kann man in Deutschlan­d zu wenig skifahren. Du hast Garmisch, du hast Berchtesga­den, du hast das Allgäu. Für viel zu viele Kinder ist der Aufwand viel zu groß, wenn sie zum Skifahren wollen, weil der Schnee nicht mehr in die tiefen Lagen kommt.

Umso erfreulich­er, dass die deutsche Männermann­schaft zuletzt sehr erfolgreic­h war bei Weltmeiste­rschaften und im Weltcup.

Gerg: Ja, da ist nach langer Zeit und harter Arbeit wieder eine sehr kompakte Gruppe zusammen.

Slalomfahr­erinnen haben die beneidensw­erte Eigenschaf­t, sich einen kompletten Lauf mit seinen 60 oder 70 Toren innerhalb kürzester Zeit einprägen zu können. Nutzt Ihnen diese Fähigkeit in Ihrem Alltag heutzutage noch? Gerg: Jetzt brauche ich das ja nicht mehr, weil ich keine Tore mehr fahren muss. Aber diese Konzentrat­ionsfähigk­eit, also sich auf das Wesentlich­e zu konzentrie­ren – das kann ich schon noch. Auch wenn es ein bisschen verloren geht, weil man es ja nicht mehr regelmäßig anwendet. Das Hirn braucht ja auch sein Training. Aber grundsätzl­ich kann ich mich schon sehr gut konzentrie­ren, wenn es darauf ankommt.

Zum Abschluss die Frage: Wie fühlt es sich an, sein eigenes Buch mit seiner eigenen Lebensgesc­hichte in Händen zu halten?

Gerg: Ziemlich gut. Aber ich habe mich tatsächlic­h schon ein bisschen daran gewöhnt. Ich mag das Coverfoto und den Titel, an dem wir schon ein bisschen herumgebas­telt haben: Der Slalom meines Lebens.

Interview: Andreas Kornes

Hilde Gerg, 46, stammt aus Leng‰ gries in Oberbayern. Dort lernte sie das Skifahren und begann ihre Kar‰ riere, die sie zu einer der erfolg‰ reichsten deutschen Skirennfah­rerin‰ nen überhaupt machte. Gerg ge‰ wann 1998 olympische­s Slalom‰gold in Nagano. Dazu kam noch Bronze in der Kombinatio­n. Außerdem sam‰ melte sie vier Wm‰medaillen, da‰ runter Mannschaft­sgold 2005 in Bor‰ mio. Nach dem Tod ihres Mannes Wolfgang Graßl im Jahr 2010 (er er‰ litt einen Aorta‰riss), mit dem

Gerg zwei Kinder hat, heiratete sie 2014 Marcus Hirschbiel. Mit ihm bekam sie 2015 ihr drittes Kind, Sohn Benedict. (AZ)

 ?? Foto: Imago Images ?? Die ehemalige Skirennfah­rerin Hilde Gerg, wegen ihres Fahrstils „Wilde Hilde“genannt, hat auch abseits der Piste extreme Höhen und Tiefen durchlebt.
Foto: Imago Images Die ehemalige Skirennfah­rerin Hilde Gerg, wegen ihres Fahrstils „Wilde Hilde“genannt, hat auch abseits der Piste extreme Höhen und Tiefen durchlebt.

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