Geimpft gegen ungeimpft
Corona Die einen sind frustriert, weil die vierte Corona-welle erneut voll zuschlägt. Die anderen ärgern sich, dass ihnen
die Schuld daran zugeschoben wird. Kann verhindert werden, dass die Bevölkerung sich nicht noch mehr entzweit?
München Wie ein Riss gräbt sich das Coronavirus immer tiefer durch unsere Gesellschaft. Auf der einen Seite dieses Pandemie-grabens stehen die Geimpften, auf der anderen die, die nicht geimpft sind – und das auch weiterhin strikt ablehnen.
Es ist eine Spaltung, die sich einerseits an harten Fakten festmachen lässt: 8,6 Millionen Menschen in Bayern sind geimpft. 4,5 Millionen sind es nicht. Die Sieben-tageinzidenz beträgt im Freistaat bei den Geimpften 109,7, bei den Ungeimpften 1468,9. Geimpfte dürfen nach den neuesten Beschlüssen der Staatsregierung weiterhin viele alltägliche Dinge unternehmen. Für Ungeimpfte gilt stattdessen ein Lockdown mit Kontaktbeschränkungen und Zutrittsverboten für Freizeiteinrichtungen.
Andererseits sind bei Corona auch eine Menge Gefühle mit im Spiel, die die Menschen entzweien. Vertrauen und Misstrauen in Experten, Medien und Politik. Die Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 steht einer Angst vor den möglichen Spätfolgen einer Impfung gegenüber. Die einen sind frustriert, dass ihnen ein erneuter harter Winter bevorsteht. Die anderen, dass sie als Ungeimpfte vielerorts keinen Zutritt mehr haben. Die Geimpften sind sauer, dass sich so viele Menschen nicht impfen lassen. Die Ungeimpften ärgern sich, dass ihnen die alleinige Schuld daran gegeben wird, dass die Infektionszahlen so stark ansteigen.
Wie also schafft man es, Coronamaßnahmen auf den Weg zu bringen und trotzdem ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern? Wie will man die Bürgerinnen und Bürger nicht gegeneinander aufbringen, wenn Teile der Bevölkerung vom alltäglichen Leben ausgeschlossen werden? Wie wägt man bei den Maßnahmen ab zwischen Gesundheitsschutz und Zusammenhalt? Fragen über Fragen, auf die viele Experten in diesen Tagen Antworten finden müssen: die Politikerinnen und Politiker bei der Ministerpräsidentenkonferenz zum Beispiel.
Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ist sich der problematischen Situation bewusst. Immer wieder warnte er in den vergangenen Wochen: „Wir wissen und wir spüren auch, dass sich die Gesellschaft spaltet“, sagte er. „Es entsteht immer weniger Verständnis der Geimpften für die Situation. Sie sagen, wir haben alles getan, was man tun soll, und trotzdem haben wir jetzt diese Herausforderung.“Und er betont: Trotz allem dürfe es keine Häme denen gegenüber geben, die sich mit dem Impfen bisher noch schwergetan haben.
Doch nicht nur Politiker, auch Virologen, Juristen und Experten sind in dieser Debatte gefragt. Einer von ihnen ist zum Beispiel Professor Nikolaus Knoepffler, Mitglied im Bayerischen Ethikrat und Leiter des Lehrstuhls für Angewandte Ethik an der Universität Jena. Er ist überzeugt: Bevor man sich Gedanken über weitere Corona-maßnahmen mache, müsse man sich vergegenwärtigen, warum sich auch nach zwei Jahren Pandemie so viele Menweigerten, sich impfen zu lassen. „Ich habe dazu eine klare Position“, sagt er. „Ich denke, im Moment sehen wir, wie die Saat der vergangenen 50 Jahre aufgeht, in denen die Gentechnik verteufelt wurde. Diese Angst hat man jahrzehntelang geschürt und nun hat sie Breitenwirkung erreicht. Auch deshalb gibt es heute so viele Menschen, die überzeugt sind, dass Impfen mit einem gentechnisch hergestellten Impfstoff etwas Böses ist.“
Vor diesem Hintergrund ist der Ethiker skeptisch, dass Impfgegner zu diesem Zeitpunkt der Pandemie noch überzeugt werden könnten. „Ähnliches sehen wir auch bei Kampagnen zur Organtransplantation“, berichtet er. „Der harte Kern der Gegner lässt sich davon kein Stück bewegen. Weil die Überzeugung dieser Menschen viel tiefer sitzt, sie ist zu einer Art fundamentaler Weltanschauung geworden.“Seinen Standpunkt unterlegt Knoepffler mit zwei historischen Beispielen:
„Schon während der Pestepidemie gab es Gruppen, die sich relativ gut zu schützen wussten, und andere, die meinten, die Pest mit religiösen Prozessionen bekämpfen zu können.“Das Gleiche sei auch von den ersten Pockenimpfungen bekannt: Anfang des 19. Jahrhunderts hätten Gegner die „Verjauchung des Menschen“beklagt. Sie warfen den Impfbefürwortern vor, die Menschen Kühen ähnlich zu machen, weil die Entdeckung der Impfmöglichkeit auf einer Infektion mit Kuhpocken beruhte. „Irrationale Ängste, die man heute auch findet“, sagt er. „Nur in neuem Gewand.“
Doch wenn die Situation derart ausweglos scheint, was kann dann jetzt noch unternommen werden? Nikolaus Knoepffler hat einen konkreten Vorschlag: „Meiner Meinung nach gibt es nur einen Weg. Das ist nicht die Impfpflicht, man müsste versuchen, die Skeptiker indirekt umzustimmen.“Knoepffler schlägt vor, in dieser außergewöhnschen lichen pandemischen Situation die ungeimpften Erwachsenen, die aufgrund ihrer Corona-infektion ins Krankenhaus oder gar auf die Intensivstation kommen, an den Kosten, die sie verursachen, zu beteiligen – natürlich nicht diejenigen, die sich nicht impfen lassen dürfen. „Sie müssten dann zum Beispiel zehn Prozent ihrer Krankenhausrechnung übernehmen. Das wäre der Preis für ihr unsolidarisches Verhalten, weil es möglicherweise wieder zu einem Lockdown kommt, unter dem besonders die Alten, die Kinder und Jugendlichen leiden werden.“
Es ist ein konkreter Vorschlag – doch das Problem, dass sich die Gesellschaft immer mehr spaltet, wird vermutlich auch das nicht lösen. Oder? „Natürlich kann man diese zwei Gruppen in der Pandemie nicht versöhnen“, sagt Knoepffler. „Immer wenn Menschen in ihren Überzeugungen weltanschaulich gebunden sind, lassen sie sich nicht versöhnen mit der Gruppe, die das Gegenteil sagt.“Deshalb gebe es in einer Demokratie ja das Verfahren, sich darauf zu einigen, dass man gewissen Mehrheiten folgt, auch wenn man persönlich anderer Meinung ist. „Das ist die einzige Strategie der Versöhnung. Wer dieses Verständnis nicht teilt, der will im Endeffekt die Demokratie zerstören.“
Deutliche Worte findet auch Ministerpräsident Söder auf Anfrage unserer Redaktion – und schlägt dennoch versöhnlichere Töne an: „Eine Spaltung können wir nur verhindern, indem wir gemeinsam alle noch Unentschlossenen von der Impfung überzeugen.“Es sei die moralische Pflicht aller Bürgerinnen und Bürger, die Folgen ihres Handelns zu bedenken. Denn wer sich impfen lasse, schütze sich und andere. „Es geht hier um die Schwächsten in unserer Gesellschaft“, betont Söder. „Denn wer sich nicht impfen lassen kann, ist auf den Zusammenhalt all derer angewiesen, die es können. Das muss uns allen klar sein.“Aufgabe der Politik sei es, Gesundheit und Leben der Bevölkerung zu schützen – „und allen eine Brücke zu bauen, die noch unsicher sind. Nur so werden wir wieder zur Freiheit wie vor der Pandemie finden und das gesellschaftliche Miteinander stärken“. »Kommentar