Die Skepsis aus dem Alpenraum
Corona Die Impfquote in Bayern, aber auch in anderen alpinen Gegenden ist niedrig. Woher kommt das? Forscher verweisen unter anderem auf die Anthroposophie und die 68er-bewegung
Augsburg Immer mehr Menschen infizieren sich mit dem Coronavirus. Obwohl eine Impfung schützen und den Krankheitsverlauf abschwächen kann, stagniert die Zahl der Injektionen in Bayern. Bisher sind rund 8770000 Menschen vollständig geimpft – das entspricht etwa 66 Prozent der Bevölkerung. Der schlechteste Wert unter den westlichen Bundesländern. Doch warum ist die Impfquote im Freistaat so niedrig?
Historiker Malte Thießen beschäftigt sich mit der Geschichte der Seuchen und dem Einfluss der Corona-pandemie. In der Geschichte der Pandemien und ihrer Bekämpfung seien Parallelen zur heutigen Situation erkennbar. „Das Impfen war im 19. Jahrhundert ein neues Verfahren“, sagt Thießen. Damals wüteten die Pocken in Deutschland. Bayern positionierte sich als Vorreiter und führte ab 1807 ein Impfgesetz mit einer Impfpflicht ein, erst 40 Jahre später folgte das Reichsimpfgesetz.
Der Historiker erklärt: „Der Freistaat wollte zeigen: Wir schützen euch und werden unserer Fürsorgepflicht gerecht.“Es entstanden
Impfzentren wie die große königliche Impfanstalt in München. Ausgehend von der Stadt versuchte die Regierung in die Provinzen vorzudringen – was zu Problemen führte. Ländliche Regionen sahen die Moderne als Einbruch in ihre natürliche Welt. „Das Impfen war eine Projektionsfläche für die Spannungen zwischen dem Staat und der Provinz“, sagt Thießen.
Einen Grund für die heuer niedrige Impfquote in Bayern sieht der Historiker darin, dass es besonders in Süddeutschland, also in Bayern und Baden-württemberg, aber auch in Sachsen eine starke Tradition der Esoterik und der Anthroposophie gab. Letzteres bedeutete „Weisheit des Menschen“und gründet auf den Lehren von Rudolf Steiner, der unter anderem die Waldorfschulen gründete. Steiner betonte die Freiheit des Menschen, der sich allen Formen der Bevormundung entziehen solle, um einen ganz eigenen Zugang zu Phänomenen der übersinnlichen Welt zu erlangen.
Thießen erklärt: „Im 19. Jahrhundert sprach man von der Lebensreform, die die natürliche Lebensweise propagiert, um gegen die Schädigungen der Moderne geschützt zu sein. Sie waren Grundlage für eine starke Impfkritik, die sich breitmachte.“Die Reformbewegung, die in Süddeutschland, aber auch Schweiz und Österreich viele Anhänger hatte, wirke auch heute noch nach in Gegenden, die Vorbehalte gegen Impfung hätten.
Schon damals formierten sich die Impfgegner, als 1847 das Reichsimpfgesetz für Pockenimpfungen beschlossen wurde. „Nach Schätzungen gab es Anfang des 20. Jahrhunderts 320000 organisierte Impfgegner und Impfgegnerinnen, die in Vereinen Stimmung gegen Impfungen gemacht haben“, berichtet Thießen. Der Markt an gefälschten Impfausweisen florierte.
Damals hatte die Impfpflicht das Ziel, dass sich mehr Menschen impfen lassen. Doch änderte sich dadurch nicht die Einstellung der Menschen, die sich partout nicht piksen lassen wollten. Also setzte der Staat auf niederschwellige Angebote und Vorteile für die Impflinge.
Zu den Corona-protesten in
Deutschland, Österreich und der Schweiz forscht der Schweizer Soziologe Oliver Nachtwey. Alle drei Länder haben aktuell die niedrigste Impfquote in Westeuropa. Bisher haben die Untersuchungen gezeigt, dass in den Protestmilieus Anthroposophie, Esoterik und antiautoritäres Denken häufig zusammen auftreten. „Als Folge der 1968er-bewegung haben sich Alternativmilieus gebildet“, erklärte Nachtwey im Interview mit der österreichischen Tageszeitung Standard.
Es ging um Esoterik und Spiritualismus, Kinder kamen auf Waldorfschulen und alternative Medizin lag im Trend. Nachtwey sagt zur aktuellen Situation: „Es geht in diesen Strömungen vor allem um eine Form von Ganzheitlichkeit, Selbstverwirklichung und Körpersouveränität.“Das Impfen werde nun als autoritärer Eingriff des Staates wahrgenommen.
Historiker Malte Thießen findet, dass man für die Pandemie eine Lehre aus der Geschichte ziehen kann: „Es hilft, den Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen, aber es muss auch aufgeklärt werden. Menschen wollen selbstständig mit einer guten Wissensgrundlage entscheiden.“
In der Tradition der Lebensreformbewegung