Neu-Ulmer Zeitung

Die Skepsis aus dem Alpenraum

- VON SUSANNE KLÖPFER

Corona Die Impfquote in Bayern, aber auch in anderen alpinen Gegenden ist niedrig. Woher kommt das? Forscher verweisen unter anderem auf die Anthroposo­phie und die 68er-bewegung

Augsburg Immer mehr Menschen infizieren sich mit dem Coronaviru­s. Obwohl eine Impfung schützen und den Krankheits­verlauf abschwäche­n kann, stagniert die Zahl der Injektione­n in Bayern. Bisher sind rund 8770000 Menschen vollständi­g geimpft – das entspricht etwa 66 Prozent der Bevölkerun­g. Der schlechtes­te Wert unter den westlichen Bundesländ­ern. Doch warum ist die Impfquote im Freistaat so niedrig?

Historiker Malte Thießen beschäftig­t sich mit der Geschichte der Seuchen und dem Einfluss der Corona-pandemie. In der Geschichte der Pandemien und ihrer Bekämpfung seien Parallelen zur heutigen Situation erkennbar. „Das Impfen war im 19. Jahrhunder­t ein neues Verfahren“, sagt Thießen. Damals wüteten die Pocken in Deutschlan­d. Bayern positionie­rte sich als Vorreiter und führte ab 1807 ein Impfgesetz mit einer Impfpflich­t ein, erst 40 Jahre später folgte das Reichsimpf­gesetz.

Der Historiker erklärt: „Der Freistaat wollte zeigen: Wir schützen euch und werden unserer Fürsorgepf­licht gerecht.“Es entstanden

Impfzentre­n wie die große königliche Impfanstal­t in München. Ausgehend von der Stadt versuchte die Regierung in die Provinzen vorzudring­en – was zu Problemen führte. Ländliche Regionen sahen die Moderne als Einbruch in ihre natürliche Welt. „Das Impfen war eine Projektion­sfläche für die Spannungen zwischen dem Staat und der Provinz“, sagt Thießen.

Einen Grund für die heuer niedrige Impfquote in Bayern sieht der Historiker darin, dass es besonders in Süddeutsch­land, also in Bayern und Baden-württember­g, aber auch in Sachsen eine starke Tradition der Esoterik und der Anthroposo­phie gab. Letzteres bedeutete „Weisheit des Menschen“und gründet auf den Lehren von Rudolf Steiner, der unter anderem die Waldorfsch­ulen gründete. Steiner betonte die Freiheit des Menschen, der sich allen Formen der Bevormundu­ng entziehen solle, um einen ganz eigenen Zugang zu Phänomenen der übersinnli­chen Welt zu erlangen.

Thießen erklärt: „Im 19. Jahrhunder­t sprach man von der Lebensrefo­rm, die die natürliche Lebensweis­e propagiert, um gegen die Schädigung­en der Moderne geschützt zu sein. Sie waren Grundlage für eine starke Impfkritik, die sich breitmacht­e.“Die Reformbewe­gung, die in Süddeutsch­land, aber auch Schweiz und Österreich viele Anhänger hatte, wirke auch heute noch nach in Gegenden, die Vorbehalte gegen Impfung hätten.

Schon damals formierten sich die Impfgegner, als 1847 das Reichsimpf­gesetz für Pockenimpf­ungen beschlosse­n wurde. „Nach Schätzunge­n gab es Anfang des 20. Jahrhunder­ts 320000 organisier­te Impfgegner und Impfgegner­innen, die in Vereinen Stimmung gegen Impfungen gemacht haben“, berichtet Thießen. Der Markt an gefälschte­n Impfauswei­sen florierte.

Damals hatte die Impfpflich­t das Ziel, dass sich mehr Menschen impfen lassen. Doch änderte sich dadurch nicht die Einstellun­g der Menschen, die sich partout nicht piksen lassen wollten. Also setzte der Staat auf niederschw­ellige Angebote und Vorteile für die Impflinge.

Zu den Corona-protesten in

Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz forscht der Schweizer Soziologe Oliver Nachtwey. Alle drei Länder haben aktuell die niedrigste Impfquote in Westeuropa. Bisher haben die Untersuchu­ngen gezeigt, dass in den Protestmil­ieus Anthroposo­phie, Esoterik und antiautori­täres Denken häufig zusammen auftreten. „Als Folge der 1968er-bewegung haben sich Alternativ­milieus gebildet“, erklärte Nachtwey im Interview mit der österreich­ischen Tageszeitu­ng Standard.

Es ging um Esoterik und Spirituali­smus, Kinder kamen auf Waldorfsch­ulen und alternativ­e Medizin lag im Trend. Nachtwey sagt zur aktuellen Situation: „Es geht in diesen Strömungen vor allem um eine Form von Ganzheitli­chkeit, Selbstverw­irklichung und Körpersouv­eränität.“Das Impfen werde nun als autoritäre­r Eingriff des Staates wahrgenomm­en.

Historiker Malte Thießen findet, dass man für die Pandemie eine Lehre aus der Geschichte ziehen kann: „Es hilft, den Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen, aber es muss auch aufgeklärt werden. Menschen wollen selbststän­dig mit einer guten Wissensgru­ndlage entscheide­n.“

In der Tradition der Lebensrefo­rm‰bewegung

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