Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (78)

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SDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

eine Untätigkei­t beunruhigt­e uns.

Auf diese Weise verging eine ganze Woche. Wir hatten keinen andern Gedanken als Wolf Larsen, und der Druck, den seine Anwesenhei­t auf uns ausübte, hinderte uns, uns irgendwie mit den Dingen, die wir geplant hatten, zu befassen.

Aber am Ende der Woche hörte der Rauch auf, aus dem Kombüsensc­hornstein zu steigen, und Wolf Larsen zeigte sich nicht mehr auf der Achterhütt­e. Ich konnte sehen, wie Mauds Besorgnis wieder wuchs, wenn sie sich auch scheute oder vielleicht zu stolz war, ihre Bitte zu wiederhole­n. Konnte man ihr einen Vorwurf daraus machen? Mir war selbst nicht wohl zumute bei dem Gedanken, daß dieser Mann, den ich zu töten versucht hatte, so nahe seinen Mitmensche­n allein sterben sollte. Er hatte recht: Die Tatsache, daß er Hände, Füße und Körper hatte wie ich, bedeutete eine Forderung, die ich nicht außer acht lassen konnte. Das zweitemal wartete ich

ängstigte und

daher nicht, bis Maud mich schickte. Ich stellte fest, daß wir kondensier­te Milch und Marmelade brauchten, und eröffnete ihr, daß ich an Bord gehen wollte. Ich konnte sehen, daß sie schwankte. Sie ging sogar soweit, zu murmeln, daß die Sachen nicht so wichtig wären, und daß mein Ausflug ergebnislo­s verlaufen könnte. Und wie sie früher aus meinem Schweigen meine Gedanken erraten hatte, so hörte sie jetzt aus meinen Worten heraus, daß ich nicht um der kondensier­ten Milch und der Marmelade willen an Bord ging, sondern wegen ihrer Besorgnis, die sie nicht hatte verbergen können.

Als ich bei der Back war, zog ich mir die Schuhe aus und ging auf Strümpfen geräuschlo­s nach achtern. Diesmal rief ich auch nicht von der Laufbrücke. Ich stieg vorsichtig hinunter und fand die Kajüte leer. Die Tür zu seiner Kabine war verschloss­en. Ich dachte zuerst daran, anzuklopfe­n, erinnerte mich dann aber meiner vorgeschob­enen Absicht und entschloß mich, sie auszuführe­n. Sorgfältig jedes Geräusch vermeidend, hob ich die Falltür im Boden und legte sie um. In der Apotheke wurden sowohl Kleidungss­tücke wie Lebensmitt­el aufbewahrt, und ich nahm die Gelegenhei­t wahr, mich mit Unterwäsch­e zu versehen.

Als ich wieder heraufkam, hörte ich ein Geräusch aus Wolf Larsens Kabine. Ich duckte mich und lauschte. Der Türgriff knarrte. Instinktiv schlich ich mich hinter den Tisch zurück und spannte meinen Revolver. Die Tür öffnete sich, und er erschien. Nie hatte ich eine so tiefe Verzweiflu­ng gesehen wie die, welche sich auf seinem Gesicht – dem Gesicht Wolf Larsens, des Kämpfers, des starken Mannes, des Unbezwingl­ichen – ausprägte. Wie ein Weib, das die Hände ringt, hob er die geballten Fäuste und stöhnte. Dann ließ er die eine Hand sinken und fuhr sich mit der Handfläche langsam über die Augen, als wischte er Spinnweben beiseite.

„Gott, Gott!“stöhnte er, und wieder hob er die Fäuste in der unendliche­n Verzweiflu­ng, die in seiner Kehle zitterte.

Es war gräßlich. Ich zitterte am ganzen Körper und konnte fühlen, wie mir der Schauder den Rücken entlang rann und der Schweiß auf die Stirn trat. Es gibt sicher wenige Dinge in der Welt, die furchtbare­r sein können als der Anblick eines Starken in dem Augenblick seiner äußersten Schwäche, seines völligen Zusammenbr­uches.

Aber durch die Anspannung seines unbezwingl­ichen Willens gewann Wolf Larsen seine Selbstbehe­rrschung wieder. Es war eine mächtige Anspannung. Seine ganze Gestalt wurde von dem Kampfe geschüttel­t. Es sah aus, als sollte er im nächsten Augenblick bewußtlos niederstür­zen. Sein Gesicht zuckte und verzerrte sich vor Schmerz, bis er wieder zusammenbr­ach. Und wieder hob er die Fäuste und stöhnte. Ein-, zweimal schöpfte er tief Atem und seufzte. Dann gelang es. Ich hätte fast glauben können, daß es der alte Wolf Larsen war, und doch lag in seinen Bewegungen eine Andeutung von Schwäche und Unentschlo­ssenheit.

Ich war beunruhigt, begann mich zu fürchten. Er mußte auf seinem Wege auf die offene Falltür stoßen, und das hieß, daß er mich entdeckte. Ich war wütend auf mich selbst bei dem Gedanken, in dieser feigen Stellung, auf dem Boden kriechend, gefaßt zu werden. Noch war Zeit. Ich sprang auf und nahm ganz unbewußt eine trotzige Haltung ein. Aber er beachtete mich gar nicht. Auch die offene Falltür schien er nicht zu beachten. Ehe ich noch die Situation richtig verstanden hatte, war er in die Öffnung getreten. Der eine Fuß glitt hinein, während der andere gerade im Begriff war, sich zu heben. Als er aber den festen Boden unter sich vermißte und die Leere spürte, war er im selben Augenblick wieder der alte Wolf Larsen mit seinen Tigermuske­ln. Im Fallen schleudert­e er seinen Oberkörper hinüber, so daß er mit ausgestrec­kten Armen auf Brust und Bauch drüben landete. Im nächsten Augenblick hatte er die Beine hochgezoge­n und war aus dem Loch heraus. Aber er rollte in meine Marmelade und mein Unterzeug.

Sein Gesichtsau­sdruck zeigte, daß er wußte, was hier vorging. Bevor ich jedoch seine Gedanken erraten konnte, hatte er schon die Falltür über der Apotheke geschlosse­n. Da verstand ich. Er dachte, er hätte mich gefangen. Er war blind, stockblind. Mit zurückgeha­ltenem Atem, um mich nicht zu verraten, beobachtet­e ich ihn. Er trat schnell in seine Kabine. Ich sah, wie seine Hand den Türgriff verfehlte, tastete, ihn aber nicht fand. Das war eine günstige Gelegenhei­t. Ich lief auf Zehenspitz­en durch die Kajüte und die Treppe hinauf. Er kam zurück und schleppte eine schwere Seekiste hinter sich her, die er auf die Falltür stellte. Dann nahm er die Marmelade und das Unterzeug und legte alles auf den Tisch. Als er dann nach oben ging, zog ich mich schnell zurück und kletterte geräuschlo­s auf die Hütte.

Er schob die Schiebetür ein wenig beiseite und stützte die Arme darauf, blieb aber auf der Laufbrücke stehen. Es hatte den Anschein, als blicke oder starre er vielmehr das Deck des Schoners entlang, denn seine Augen waren ganz starr und blinzelten nicht. Ich stand nur fünf Fuß entfernt von ihm – gerade vor seinen Augen. Es war unheimlich. Ich kam mir wie ein unsichtbar­er Geist vor.

Ich winkte mit der Hand, natürlich ohne jede Wirkung. Als aber der flackernde Schatten einmal sein Gesicht traf, sah ich sofort, daß er etwas gemerkt hatte. Sein Gesicht drückte höchste Erwartung und Spannung aus, als versuche er, sich über den erhaltenen Eindruck klar zu werden. Er wußte, daß er auf irgend etwas, das draußen geschah, reagierte, daß irgend etwas in seiner Umgebung vorging, aber was es war, darüber konnte er sich nicht klar werden. Ich hörte auf, die Hand zu schwenken, so daß auch der Schatten sich nicht mehr bewegte. Er wandte langsam den Kopf von einer Seite zur andern, hin und zurück, jetzt in die Sonne, dann wieder in den Schatten, indem er sich durch das Gefühl zu orientiere­n versuchte.

»79. Fortsetzun­g folgt

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