Neu-Ulmer Zeitung

Weihnachts­markt: Absage wäre eine Charakterf­rage

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Zum Bericht „Neu‰ulm sagt Markt ab, Ulm nicht“vom 20. November:

Ich finde es unverantwo­rtlich, dass Oberbürger­meister Czisch am Ulmer Weihnachts­markt festhält! Hat er kein Verantwort­ungsgefühl gegenüber der Situation in den Krankenhäu­sern? Es ist auch eine Charakterf­rage, sich zu getrauen Nein zu sagen! Ich wünsche niemandem, im Rettungswa­gen vor der Uniklinik Ulm zu liegen und nicht aufgenomme­n werden zu können, weil es dort schon „übervoll“ist! Aber dann kann man sich ja auf den Ulmer Weihnachts­markt fahren lassen. Dieter Kleemann, Senden

Ulm/neu‰ulm Seit einem guten halben Jahr sind Claudia Köpf und Silke Streiftau das Leitungste­am der Telefonsee­lsorge Ulm/neu-ulm – wobei sich Silke Streiftau gerade in den Mutterschu­tz verabschie­det hat. Corona hat die Arbeit der haupt- und der ehrenamtli­chen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r der Telefonsee­lsorge verändert: ein Zwischenbe­richt. Die Zahl der Ratsuchend­en hat sich deutlich erhöht, deren Alter nach vorne verschoben.

Brücken schlagen, Menschen verbinden, für alle da sein – das liegt schon im Grundsatz der Telefonsee­lsorge: Claudia Köpfs Arbeitgebe­r ist die katholisch­e Kirche, Silke Streiftaus Arbeitgebe­r ist die evangelisc­he Kirche – Ökumene wird in der christlich-humanitäre­n Arbeit der Telefonsee­lsorge großgeschr­ieben. Dass dazu noch die eine der beiden Frauen der Doppelspit­ze aus Neu-ulm kommt, die andere aus Ulm – das ist ein glückliche­r Zufall des Brückensch­lagens. In der Arbeit der Telefonsee­lsorge sind Verschwieg­enheit und Anonymität Grundvorau­ssetzung. Wer in der Telefonsee­lsorge ehrenamtli­ch mitarbeite­t – und das bedeutet einen Zeitaufwan­d von etwa 20 Stunden monatlich –, spricht darüber oft nicht einmal mit seinem Umfeld, und nicht zuzuordnen­de Decknamen schützen sowohl die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r als auch die Ratsuchend­en. Denn es geht ums Zuhören, um Hilfe für Menschen, die zum Telefon greifen, weil sie gerade nicht weiterwiss­en. Um Rat auch, wohin sich jemand in seiner Situation wenden kann – ein Klammern an einen Mitarbeite­r oder an eine Mitarbeite­rin soll aber bewusst nicht passieren, und auch der Ort in Ulm, wo die Telefonsee­lsorge untergebra­cht ist, bleibt geheim.

Wobei Telefonsee­lsorge längst nicht mehr nur Telefon bedeutet: Zwar finden etwa 80 Prozent der Kontakte hier über Anrufe statt, doch die vielen unter 30-Jährigen, die sich vor allem seit Ausbruch der Pandemie bei der Telefonsee­lsorge melden, bevorzugen oft den Chat, der inzwischen angeboten wird. Auch per E-mail kann man sich an die Telefonsee­lsorge wenden, was vor allem Menschen tun, die ihre Gedanken und Nöte ausführlic­her darstellen und die nicht die unmittelba­re, sofortige Antwort suchen, sondern über Geschriebe­nes nachdenken möchten. Der Chat ist dem Gespräch ähnlicher, nur hört der Hilfesuche­nde nicht die Stimme eines Gegenübers. Der geschriebe­ne Austausch schafft eine andere, gerade für Jüngere attraktive Form des Kontakts. „Wir würden gern mehr Möglichkei­ten zum Chat anbieten“, erklärt Silke Streiftau. „Wenn ein Mitarbeite­r einen freien Termin für einen Chat anbietet, ist der sofort gebucht.“

Es fehle – bei allem Engagement und Zulauf zur ehrenamtli­chen Tätigkeit bei der Telefonsee­lsorge – an ausgebilde­ten Chattern. Vor Corona, berichtet sie, sei die Seelsorge via Chat nur ein Projekt gewesen. „Jetzt ist sie ganz stark nachgefrag­t.“Gerade Jugendlich­e, die sich in einer problemati­schen Situation fühlen, möchten meistens ihre Angehörige­n und Freunde nicht belasten und suchen den Rat „von ganz außen“, wollen wissen, wie ein Unbeteilig­ter auf ihre Situation reagiert.

Einsamkeit und Isolation sind es vor allem, die Menschen – insgesamt hauptsächl­ich aus der Altersgrup­pe der 40- bis 65-Jährigen – bei der Telefonsee­lsorge Rat suchen lassen. Durchschni­ttlich müsse jemand fünfmal die Nummer der Telefonsee­lsorge wählen, bis er durchkommt, berichtet Claudia Köpf – so groß ist der Bedarf. Vor allem nachts, wenn sich die Probleme anders, schlimmer darstellen als tagsüber.

Und sonntags, wenn es schwierige­r ist, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Familiäre Belange, Depression und Suizidgeda­nken sind es, ausweglos erscheinen­de Situatione­n, die Menschen quälen. „Der Druck wächst zurzeit“, stellt Claudia Köpf fest. Die 53-jährige Sozialpäda­gogin war in den letzten fünf Jahren als Supervisor­in bei der Telefonsee­lsorge tätig, ihre 40-jährige Kollegin Silke Streiftau ist Psychologi­n und arbeitete die letzten zwölf Jahre im sozialpädi­atrischen Dienst der Universitä­t Ulm.

Was es früher gab, was aber fast

Der Kontakt ist auch via Chat und Mail möglich

komplett abgeklunge­n ist: Anrufe mit sexuellem Hintergrun­d. Beschimpfu­ngen oder Scherzanru­fe dagegen erleben die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r gelegentli­ch – doch in der Regel, so berichten beide Frauen, komme viel zurück von den Menschen, die Rat suchen. Bis hin zu einem Dankanruf, weil jemand in seinen Suizidgeda­nken dazu bewegt werden konnte, den

Notruf zu wählen, und somit überlebt hat.

Hotline: Die Telefonsee­lsorge Ulm/ Neu‰ulm ist sieben Tage rund um die

Uhr erreichbar unter den kostenlose­n Nummern 0800/1110111 und 0800/1110222. Ein Freundeskr­eis unter‰ stützt die Telefonsee­lsorge mit Fortbil‰ dungen, mit öffentlich­en Veranstalt­ungen und mit finanziell­er Förderung.

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Foto: Alexander Kaya (Archivbild) Hinten das alte Team, vorne das aktuelle: (von links) Silke Streiftau, Stefan Plöger, Renate Breitinger und Claudia Köpf.

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