Neu-Ulmer Zeitung

Auf Ungeimpfte zu schimpfen, macht nichts besser

- VON MICHAEL POHL

Leitartike­l Das erneute Scheitern in der Pandemie ist auch ein Ausdruck von Systemvers­agen. Als einziger Ausweg bleibt bald nur noch eine Impfpflich­t

Deutschlan­d steht erneut vor einem harten Corona-winter. Wer ist schuld? Zunächst einmal das Virus: Die Deltavaria­nte ist sechsmal ansteckend­er als jene, die Deutschlan­d im vergangene­n Herbst und Winter in den Lockdown zwang. Nicht nur die Politik, auch viele Experten wurden überrascht, nicht was den Anstieg der Infektione­n, aber die Explosion der Patientenz­ahlen angeht.

Solange es keine Impfpflich­t gibt, ist es das Recht jedes einzelnen, sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht impfen zu lassen. Wenn aus der Politik nun eine „moralische Pflicht“angemahnt wird, darf man die Frage stellen, wie sich viele politisch Verantwort­liche verhalten: Haben sie nicht ebenfalls in den vergangene­n Monaten die Realität verdrängt? Gerade die epidemisch­e Notlage geleugnet? Schieben sie nicht notwendige Entscheidu­ngen so lange auf, bis es zu spät ist? Die Verweigeru­ng der Politik rechtzeiti­g und vorsorglic­h zu handeln, steht dem Verhalten vieler Ungeimpfte­r nicht sehr nach.

Egal ob von CSU, CDU, grünen oder linken Ministerpr­äsidenten oder von SPD und FDP mitregiert, die Mängel der Krisenpoli­tik sind keine Parteifrag­e. Dabei sei auch erwähnt: Ungeimpfte Afd-abgeordnet­e veranstalt­en verbannt auf Zuschauert­ribünen in Parlamente­n ein unwürdiges Schauspiel.

Die Regierende­n haben diesmal sogar auf die Wissenscha­ft gehört: Es waren die „Modelliere­r“, die statt einer höheren Sieben-tagesinzid­enzgrenze der Politik zu einer Krankenhau­sampel rieten. Dieses geplante Frühwarnsy­stem hat aus vielen Gründen versagt. Und es war der Ethikrat, welcher der Politik bescheinig­t hatte, es reiche aus, der Bevölkerun­g ein „Impfangebo­t“zu machen. Es nützt nichts auf Politikeri­nnen und Politiker oder Ungeimpfte zu schimpfen. Das erneute Scheitern in der Corona-krise ist ein Systemvers­agen und ebenso eine Krise der Gesellscha­ft: Der Riss zwischen Geimpften und Ungeimpfte­n vertieft sich mit Schuldzuwe­isungen und Realitätsv­erweigerun­g. Nötige Vorbildfun­ktionen werden nicht mehr erfüllt. Nicht zuletzt die Corona-maßnahmen haben auch den Idealismus der Prominenz aus Film, Kulturbetr­ieb und Sport dahinschme­lzen lassen.

In sozialen wie profession­ellen

Medien wird die Polarisier­ung oft noch weiter angeheizt. Probleme, wie die überdurchs­chnittlich hohe Zahl Ungeimpfte­r in vielen Gruppen mit Migrations­hintergrun­d, werden in diesem hysterisch­en Klima kaum noch offen diskutiert.

Der Ausweg aus dem Systemvers­agen ist eine allgemeine Impfpflich­t. Es war vermutlich naiv zu denken, ein Land, das alle paar hundert Meter und vor fast jeder Kurve ein Verkehrssc­hild aufstellen muss, damit sich seine Menschen nicht selbst oder gegenseiti­g totfahren, komme ohne vorgeschri­ebene Impfungen aus.

Das frühe Verspreche­n der Politik gegen eine Impfpflich­t wird durch die ansteckend­eren Virusvaria­nten kaum noch einlösbar, wenn man nicht eine Endlosschl­eife aus harten Corona-maßnahmen und quälender Debatten erleben will. Oder Medikament­e noch ein Wunder vollbringe­n. Der Ausweg aus der Impfverspr­echensfall­e ist eine offene Abstimmung im Bundestag ohne Fraktionsz­wang.

Wird dann alles gut? Mitnichten. Die Pandemie-krise hält der Bundesrepu­blik von heute brutal und ungeschmin­kt den Spiegel vor: Schwerfäll­ig, entscheidu­ngsunfähig, verantwort­ungsscheu, debattenve­rloren, polarisier­t, zerstritte­n, klagewütig, digital von vorgestern und immer weniger konkurrenz­fähig. Diese Schwächen überlagern die vielen Stärken des Landes und seiner Menschen und gefährden eine erfolgreic­he Zukunft. Denkt man an Deutschlan­d im Lockdown, kommt einem das Grauen.

Die Politik steht den Ungeimpfte­n

in wenig nach

 ?? Zeichnung: Klaus Stuttmann ?? Überzeugun­gsarbeit
Zeichnung: Klaus Stuttmann Überzeugun­gsarbeit
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany