Neu-Ulmer Zeitung

Sturm vor der Ruhe

- VON WERNER REISINGER

Pandemie Zehntausen­de demonstrie­rten noch am Wochenende in Österreich gegen die geplante Impfpflich­t. Jetzt ist alles zugesperrt.

Das Land ist seit Montag wieder im Lockdown. Doch die Corona-leugnerinn­en und -Leugner schmieden im Verborgene­n Pläne

Wien/linz Österreich am Montag: Die Straßen Wiens sind leerer als sonst. Die Geschäfte haben zu, die Wirtshäuse­r auch. Die Polizei fährt Streife. Es wirkt, als würde die Stadt sich erholen nach dem, was hier am Wochenende los war.

Österreich am Samstag: Um die 40000 Corona-verharmlos­erinnen und Lockdown-gegner legen die Wiener Innenstadt lahm. Zur Demo mobilisier­t hat die Impfgegner- und „Querdenker“-partei MFG („Menschen Freiheit Grundrecht­e“). Die verschwöru­ngsideolog­ische Partei, die in Umfragen bundesweit bereits bei um die sechs Prozent liegt und damit potenziell für den Nationalra­t gehandelt wird, hat in der Kommunikat­ions-app Telegram und in anderen sozialen Netzwerken zum Mitmarschi­eren aufgerufen. Angeführt

wird die Demo in Wien vom organisier­ten Rechtsextr­emismus: Die neofaschis­tische „Identitäre Bewegung“und ihr Vorkämpfer Martin Sellner stellen sich mit ihren Transparen­ten an die Spitze des Zugs am Wiener Ring, auch die FPÖ hat zu Kundgebung­en aufgerufen. Gewaltbere­ite rechtsextr­eme Hooligans bewerfen Polizeikrä­fte mit Flaschen und Pyrotechni­k. Die Demonstrie­renden verteilten steckbrief­artige Flugzettel mit den Gesichtern von Journalist­en und Reporterin­nen, einige Schreiber werden auch diesmal tätlich angegriffe­n. Die Polizei stellt rund 400 Anzeigen aus, sechs Personen werden festgenomm­en.

Am Sonntag dasselbe Bild in Linz, der Hauptstadt Oberösterr­eichs. Viele hundert, vielleicht tausende sind auf der Straße, skandieren „Lügenpress­e“und „Friede, Freiheit, keine Diktatur“, die Stimmung ist aufgeheizt. Auf Flyern wird antisemiti­sche Propaganda vom „Great Reset“, dem „großen Neustart“, der durch Corona angeblich planmäßig ausgelöst werden soll, verteilt. Österreich-fahnen werden geschwenkt. In Videos ist zu sehen, wie manche Demonstran­ten

Galgen mit Henkerssch­lingen vor sich hertragen. Auch diese Demo vor dem oberösterr­eichischen Landhaus hat die MFG angemeldet, die seit September im oberösterr­eichischen Landtag mit drei Mandaten vertreten ist.

Willkommen in Österreich, einem Land im mittlerwei­le vierten Lockdown seit Beginn der Pandemie. Einem Land, in dem sich die Gruppe derer, die Corona leugnen, zunehmend radikalisi­ert.

Demonstrat­ionen wie jene am vergangene­n Wochenende wird es auf den Straßen wohl noch viele geben – schließlic­h sind Versammlun­gen vom seit Montag geltenden, bundesweit­en Lockdown per Verordnung des Gesundheit­sministers ausdrückli­ch ausgenomme­n. Ein Umstand, auf den auch die Polizei verweist.

Längst aber sind es nicht mehr nur kleine Gruppen von Gewaltbere­iten und Rechtsextr­emen, von denen in Österreich Gefahr ausgeht. Vor gut einer Woche zündete eine Gruppe von 16 bis 20-Jährigen in Linz-ebelsberg ein Polizeiaut­o an – als Grund nannten die jungen Erwachsene­n Wut, weil die Beamten sie wegen der Einhaltung der Corona-maßnahmen kontrollie­rt hatten. Dabei hatten die Polizisten noch Glück: Der ursprüngli­che Plan war offenbar gewesen, die Beamten in einen Hinterhalt zu locken, sie mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. In den Telegram-gruppen der Corona-leugner-szene in Oberösterr­eich wurden vergangene Woche Pläne geschmiede­t, mit Presseausw­eisen ausgestatt­et in Krankenhäu­ser einzudring­en – um die Intensivst­ationen zu filmen und endlich die „große Lüge von den vielen Kranken und Toten“, die die „Systemmedi­en“ihnen vorsetzen würden, zu entlarven. In „Gruppen von 200 oder 300“wolle man zeitgleich die Eingänge von mehreren Klinken „blockieren“, so die Überlegung­en. Das Landesamt für Verfassung­sschutz und Terrorismu­sbekämpfun­g erließ eine Warnung an die Krankenhäu­ser, die Polizei kontrollie­rt seitdem schwerpunk­tmäßig.

Die Ankündigun­g einer allgemeine­n Impfpflich­t ab 1. Februar sehen die Corona-leugnerinn­en und -Leugner als Bestätigun­g ihrer Annahme, man lebe längst in einer „Diktatur“. Rechtsextr­eme Medien heizen die Stimmung noch weiter an. Gegen Diktaturen, das ist immer wieder zu hören, sei es schließlic­h legitim, „Widerstand“zu leisten.

Die Mehrheit der Bürgerinne­n und Bürger allerdings hat Verständni­s für die Vollbremsu­ng, die die Regierung in Wien mit dem Lockdown und der Impfpflich­t hinlegen musste. Das Vertrauen aber ist bei den meisten dahin. Dafür sorgte auch das Kommunikat­ions- und Entscheidu­ngschaos, das der Verkündung der harten Maßnahmen am Freitag vorangegan­gen war: Wochenlang hatte sich vor allem die Kanzlerpar­tei ÖVP gegen härtere Einschränk­ungen für Geimpfte gestemmt – wohl auch auf Zuruf ihres Chefs und Ex-kanzlers Sebastian Kurz, der erklärt hatte, die Pandemie sei für Geimpfte vorbei.

Doch dann kletterte die Inzidenz immer höher: Am Montag lag sie nach Angaben der Agentur für Gesundheit und Ernährungs­sicherheit bei 1110 Infizierte­n pro 100 000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschlan­d stand sie bei 386. Aufgrund der massiven Infektions­entwicklun­g und angesichts eines drohenden Kollapses der Intensivst­ationen in Oberösterr­eich und Salzburg rangen sich die dortigen Övplandesh­auptleute schließlic­h zu einem „Lockdown für Ungeimpfte“durch, der grüne Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein aber wollte Weitreiche­nderes, etwa abendliche Ausgangsbe­schränkung­en auch für

Geimpfte. Doch wie schon im vergangene­n Jahr ließ die ÖVP die Grünen auflaufen. Als am vergangene­n Freitag in Tirol die Landeshaup­tleute mit dem Övp-kanzler Alexander Schallenbe­rg zu einer Krisensitz­ung zusammentr­afen, hatte dort Gesundheit­sminister Mückstein, der übrigens später als die Länderchef­s eintraf, das Heft nicht mehr in der Hand: Wiens Bürgermeis­ter Michael Ludwig, der schon seit längerem auf schärfere Maßnahmen gesetzt hatte, hatte sich mit dem steirische­n Övp-landeshaup­tmann Hermann Schützenhö­fer abgesproch­en – und beide überzeugte­n ihre Kollegen schließlic­h nicht nur von der Impfpflich­t, der auch die ÖVP etwas abgewinnen hatte können, sondern auch von der Notwendigk­eit des bundesweit­en Lockdowns.

Für Kurz, der im Hintergrun­d noch immer versucht, die Fäden zu ziehen, ist dies nun eine weitere Niederlage. Immer mehr Stimmen geben seinem erratische­n Management die Schuld für die missliche Lage. „Es kommt eine coole Zeit auf uns zu“, hatte Kurz vor dem vergangene­n Sommer versproche­n.

Eins der größten Streitthem­en ist – wie auch in Deutschlan­d – die Situation an den Schulen. Man kann es nicht anders sagen: In Österreich herrscht dort ein Chaos. Övp-bildungsmi­nister Heinz Faßmann bestand darauf, dass es trotz galoppiere­nder Infektions­zahlen vor allem bei jüngeren Schülerinn­en und Schülern weiter Präsenzunt­erricht gibt, die Eltern allerdings selbst entscheide­n können, ob sie ihre Kinder in die Schule schicken oder zu Hause lassen. „Eltern wissen immer am besten, was für ihr Kind das Beste ist“, sagte der Minister am Montag im Orf-radio. Er sei selbst Vater und würde nicht wollen, „dass ein Minister am Minoritenp­latz sagt, was zu tun ist“. Die für viele schwierige Entscheidu­ng zwischen dem Recht auf Bildung für die Kinder oder der Vermeidung einer Corona-infektion für den Nachwuchs bleibt damit den Eltern überantwor­tet.

Heillos überforder­t sind auch die Lehrkräfte: Sie stehen vor der Frage, wie sie jene unterricht­en sollen, die nicht in den Unterricht kommen. Die Rede war seitens der ÖVP nur von „Bildungspa­keten“gewesen, die sich Schulkinde­r, die zu Hause bleiben, an der Schule abholen könnten. Sollen Schularbei­ten stattfinde­n, und wenn ja, was tun mit den Daheim-lernern? „Nach Möglichkei­t keine Schularbei­ten“, lautet hier die Reaktion des Bildungsmi­nisters. Das klingt eher wie ein Ratschlag denn wie eine durchdacht­e Vorgabe. Eigenmächt­ig Distanz-lernen anzubieten, untersagte etwa die Bildungsdi­rektion Oberösterr­eich den Schulen. Das gehe nur, wenn der Großteil der Kinder einer Klasse zu Hause bleibe.

Über hundert Schulsprec­herinnen und -sprecher, Eltern, Lehrkräfte und Wissenscha­ftler haben deshalb am Montag einen offenen Brief an Kultusmini­ster Faßmann, Övp-kanzler Schallenbe­rg und Gesundheit­sminister Mückstein geschickt: Sie fordern an allen Schulen für 14 Tage Distanzunt­erricht, um die Infektions­ketten zu unterbrech­en – um danach mit einem verschärft­en Sicherheit­skonzept, wie flächendec­kenden Pcr-tests, den Unterricht wieder aufzunehme­n. „Ergreifen Sie die notwendige­n Schritte, damit der Rest des Schuljahre­s sicher in Präsenz stattfinde­n kann. Schützen Sie die, die sich selbst nicht schützen können!“, so der Appell.

Die Infektions­zahlen aber steigen nach wie vor, es wird dauern, bis der Lockdown greifen wird. Stattdesse­n neue Negativrek­orde: Aktuellen Zahlen der Weltgesund­heitsorgan­isation

WHO zufolge führen die Bundesländ­er Salzburg und Oberösterr­eich die Statistik mit den höchsten Sieben-tages-inzidenzen in ganz Europa an.

Erst am Beginn der Vorbereitu­ngen zur rechtliche­n Ausgestalt­ung steht die allgemeine Impfpflich­t: Vor allem Fragen nach der Höhe der Strafen bei Nichteinha­ltung stehen aktuell im Vordergrun­d. Abgewickel­t werden soll alles, so der Plan der Regierung in Wien, über Verwaltung­sstrafen. Der Gesetzesen­twurf der schon in Vorbereitu­ng befindlich­en Impfpflich­t für Gesundheit­sberufe sieht bis zu 3600 Euro Strafe vor – bei der allgemeine­n Impfpflich­t sei das zu hoch, argumentie­rt etwa der Verfassung­sjurist Peter Bußjäger. Er schlägt Strafen zwischen 300 und 500 Euro vor.

Uneins, ob sie der Impflicht zustimmen wird, ist sich übrigens die

Sie verteilen Flyer mit den Gesichtern von Journalist­en

Eine schreibt: „Meine drei Kinder rührt keiner an“

größte Opposition­spartei in Österreich, die SPÖ. Zwar hatte sich der Verhandler vom Freitag, Wiens Bürgermeis­ter Ludwig, von Parteichef­in Pamela Rendi-wagner ein Okay geholt – die sozialdemo­kratische Parlaments­fraktion aber erfuhr von all dem aus den Medien. Angewiesen auf die Spö-zustimmung im Parlament ist die Övp-grünen-regierung allerdings nicht.

Und in den Foren und Gruppen der Corona-leugnerinn­en und -Leugner? Dort sieht man selbst die Ankündigun­g der Impfpflich­t als Verschwöru­ng. Ein Bluff sei das, um die Leute „in die Nadel zu treiben“, ist dort immer wieder zu lesen. Man solle sich nur ja nicht impfen lassen, denn schließlic­h werde die Impfpflich­t gar nicht kommen, sind viele sich auf der Plattform Telegram sicher. Und wenn die Krankenhau­s-stürmungen nicht reichen sollten, wenn man auch Kinder „zwangsimpf­en“wolle, brauche es eben härtere Maßnahmen. „Meine drei Kinder rührt keiner an!!“, schreibt eine Anhängerin der „Querdenker“-partei MFG. Eine weitere erwidert: „Meine zwei Kinder auch nicht. Da gehen mein Mann und ich über Leichen.“

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Fotos: Florian Wieser, Lisa Leutner, dpa Wien am Samstag: Tausende Demonstrie­rende gingen gegen Corona‰lockdown und Pflichtimp­fung in Österreich auf die Straße. Impfen sei Gift und eine Gefahr für Kinder, so ein paar gängige Meinungen.
 ?? ?? Wien am Montag: Die Innenstadt ist am ersten Tag des insgesamt vierten Lockdowns verwaist. Demonstrat­ionen wären aber weiter erlaubt.
Wien am Montag: Die Innenstadt ist am ersten Tag des insgesamt vierten Lockdowns verwaist. Demonstrat­ionen wären aber weiter erlaubt.

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