Neu-Ulmer Zeitung

Kliniken kämpfen gegen den Corona‰kollaps

- VON MICHAEL POHL

Pandemie Aufgrund der seit Wochen hohen Corona-neuinfekti­onen füllen sich die Intensivst­ationen immer weiter.

Die Intensivme­diziner-vereinigun­g DIVI schlägt Alarm, die Lage sei außer Kontrolle. Was droht in den nächsten Wochen?

Berlin Kleeblätte­r gelten in der Regel als Glückssymb­ol, in der Corona-pandemie sollen sie nun den Zusammenbr­uch des Gesundheit­ssystems in besonders gefährdete­n Regionen Deutschlan­ds verhindern. In fünf Kleeblätte­r haben Notfallmed­iziner, Klinken und die politisch Verantwort­lichen das Land eingeteilt, um die schnell wachsende Zahl von schwerst Corona-kranken in Deutschlan­d zu verteilen, nachdem nicht nur in Bayern, sondern inzwischen auch in Baden-württember­g, Sachsen und Thüringen viele Klinken keine zusätzlich­en Corona-intensivpa­tienten mehr versorgen können. Die Covid-patienten werden bereits jetzt mit Spezialkra­nkenwagen und Hubschraub­ern hunderte Kilometer weit transporti­ert. Auch Flugzeuge der Bundeswehr stehen inzwischen bereit.

„Letzte Woche hatten wir alleine 1887 Patienten mit Covid-19 neu auf deutsche Intensivst­ationen aufgenomme­n“, verdeutlic­ht Intensivme­diziner-präsident Gernot Marx den Ernst der Lage. Ohne Behandlung auf der Intensivst­ation würde

jeder einzelne dieser Patientinn­en und Patienten sterben. Die schwersten Fälle, die im künstliche­n Koma an der Ecmo genannten Beatmungsm­aschine hängen, haben trotz Fortschrit­te bei den Medikament­en auch heute nur eine Überlebens­chance von 50 Prozent. Und derzeit wird die Hälfte aller Corona-intensivpa­tienten „invasiv“, das heißt maschinell beatmet.

„689 Patienten mit Covid-19 sind in der letzten Woche gestorben“, berichtet Marx. Die nüchterne Rechnung heißt den Zahlen zufolge, dass unter dem Strich seit vergangene­r Woche 1198 Corona-patienten mehr auf den Intensivst­ationen um ihr Leben kämpfen. „Die Coronalage ist sehr besorgnise­rregend und momentan nicht unter Kontrolle“, betont der Präsident der Intensivme­dizinerver­einigung DIVI.

Die Organisati­on hat nun erstmals wieder genaue Prognosen vorgelegt, wie sich die Zahlen in den kommenden Wochen entwickeln könnten. Die Frage ist, ab welcher Inzidenz es Politik und Gesellscha­ft gelingt, die gegenwärti­ge vierte Corona-welle – mit welchen Mitteln auch immer – zu brechen. Am Montag lagen exakt 3845 Corona-patienten auf den Intensivst­ationen, bei einer bundesweit­en Sieben-tages-inzidenz von 386,5. Steigt die Inzidenz weiter auf 600, wird die Zahl deutlich über 6000 ansteigen und erst im März wieder unter diese Marke fallen. Selbst ein schneller Stopp mit einer bundesweit­en Inzidenz von 400 wird den Klinken der Prognose zufolge eine Belastung auf dem heutigen Niveau bis ins Frühjahr bescheren.

Noch trüber sehen die Aussichten für Bayern aus: Mit 965 Corona-patienten liegen inzwischen mehr Covid-19-patienten auf den Intensivst­ationen als auf dem Höhepunkt der bisher schlimmste­n zweiten Welle. Landesweit lag die Sieben-tages-inzidenz zu Wochenbegi­nn bei 641 Neuinfizie­rten pro hunderttau­send Einwohner. Klettert die Inzidenz weiter auf über 800 werden es rund 1500 Covid-intensivpa­tienten sein – mehr als halb so viel, wie es auf dem Höhepunkt der ersten Coronawell­e in ganz Deutschlan­d gab.

Schon jetzt werden Corona-patienten aus dem Freistaat ins Ausland verlegt. Bayern ist in dem Notfallpla­n das eigene Kleeblatt Süd. Eivermutli­ch gentlich sollen die Patienten zuerst innerhalb des Kleeblatts verlegt werden. Das bedeutet, dass fast in ganz Bayern planbare Operatione­n verschoben werden und die Kliniken Reserven schaffen müssen.

Mit der Notfallres­erve werden Normalbett­en zu Intensivbe­tten umgewandel­t, die Technik dafür steht bereit. Doch um die Betten mit Arzt- und Pflegepers­onal zu betreiben, werden die Fachkräfte aus Nicht-intensivst­ationen abgezogen. „Das heißt, dass die allgemeine Gesundheit­sversorgun­g nicht auf dem sehr hohen Niveau in gewohnter Weise zur Verfügung steht“, sagt Divi-präsident Marx.

Wenn die Neuinfekti­onszahlen weiter wie bislang ansteigen, „dann wird diese Priorisier­ung und Umorganisa­tion in weiten Teilen Deutschlan­ds notwendig werden“, erklärt der Aachener Medizinpro­fessor. „Aber es heißt dennoch, dass jeder Notfall und damit auch jeder neue Patient in Deutschlan­d auch in den nächsten Tagen und Wochen versorgt wird“, fügt er hinzu.

Doch eigentlich sind die Intensivst­ationen das ganze Jahr ausgelaste­t, da sie für die Versorgung nach schweren Operatione­n benötigt werden. Inzwischen werden selbst einige Krebsopera­tionen abgesagt und verschoben. „Wir haben aktuell wieder ein Verdrängun­gsprozess“, sagt der Intensivme­diziner Steffen Weber-carstens von der Berliner Charité. Das heiße, Corona-patienten verdrängen andere Patienten aus den Intensivst­ationen, die nun länger auf geplante Eingriffe warten müssten. „Wir haben deshalb in der Charité unser Normalprog­ramm reduziert, damit wir Kapazitäte­n schaffen können.“Nur so seien die Versorgung von Notfallpat­ienten und die dringliche­n Operatione­n von Nicht-corona-patienten noch aufrechtzu­erhalten.

„Wir, die Intensiv- und Notfallmed­iziner, brauchen Unterstütz­ung“, fordert Divi-präsident Marx Politik und Gesellscha­ft zum Handeln auf. „Die Impfung ist nach wie vor der Schlüssel zum Erfolg der Pandemie-bewältigun­g, ebenso die Booster-impfung“, betont er. Auch die Geimpften müssten die kommenden Wochen Verantwort­ung zeigen. Die Politik müsse spätestens im Dezember über härtere Maßnahmen entscheide­n.

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Foto: Matthias Balk, dpa Corona‰patient auf Intensivst­ation: „Die Corona‰lage ist sehr besorgnise­rregend und momentan nicht unter Kontrolle“, warnt Divi‰präsident Gernot Marx.

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