Wo Eisen kocht
Reportage In der Industriestadt Augsburg befindet sich die einzige Großgießerei im süddeutschen Raum. Nachts schmilzt dort bei 1500 Grad das Metall. Jetzt öffnet sich MAN Energy Solutions für Fremdaufträge. Ein Besuch bei den Männern vor Ort
Augsburg Frühmorgens, wenn in der Stadt die letzten Nachtschwärmer ihren Weg nach Hause antreten, fließt im Fabrikgebäude nahe des Lechs bereits 1500 Grad heißes Eisen aus dem Ofen. Es ist 5 Uhr. In den letzten Stunden haben die Arbeiter bei MAN Energy Solutions Schrott und Roheisen geschmolzen. Jetzt stehen sie bereit für den nächsten Schritt, das Abstechen, um das flüssige Eisen in Gusspfannen zu füllen, meterhohe Töpfe aus Stahl – ausgekleidet mit Schamottsteinen, um Temperaturen auszuhalten, die sonst tief unter der Erdkruste herrschen. Heute Nacht bereitet man sich bei MAN Energy Solutions darauf vor, das Gehäuse eines Motors zu gießen, der fertigmontiert 294 Tonnen wiegen und Schiffe über die Weltmeere treiben wird. Der erste Schritt dazu ist, das Eisen aus den Öfen in die Pfannen zu füllen. Diese werden später in eine andere Halle hinübertransportiert. Erst dort findet der Guss statt. Die Atmosphäre an den Schmelzöfen ist ruhig, die Kommandos in der Halle klingen gedämpft, nur hin und wieder ist ein Lachen zu hören.
Das Unternehmen MAN Energy Solutions in Augsburg besitzt eine Besonderheit. Der Großmotorenhersteller betreibt die einzige Großgießerei in Süddeutschland, einer der ältesten Betriebe auf dem Werksgelände. Die Anlage ist im Jahr 1844 in Betrieb gegangen und diente zunächst der Produktion von Bauteilen der Sander’schen Maschinenfabrik, die im Jahr 1857 zur Maschinenfabrik
Es entstehen Gehäuse für die großen Schiffsmotoren
Augsburg und 1908 zu MAN wird. Sie gehört zu den fünf größten Gießereien für Großteile in Europa. MAN Energy Solutions stellt in erster Linie die Gehäuse von Kraftwerks- und Schiffsmotoren her. Stärker als bisher will die Gießerei auch Aufträge anderer Unternehmen annehmen und sie mit hoher Präzision ausführen.
Gießereileiter Marco Nagler, 47, ist ein groß gewachsener Mann mit Dreitagebart. Vor 25 Jahren hat er hier seine Lehre als Gießereimechaniker beendet, studierte anschließend in Duisburg Gießereitechnik und arbeitete in mehreren Funktionen in anderen Betrieben. Erst 2018, nach rund 20 Jahren, kam er zurück nach Augsburg. „Das Gießen von Eisen ist ein kompliziertes Verfahren“, sagt er. „Es besteht aus mehreren Schritten, die nicht schiefgehen dürfen.“Stimmen muss die chemische Zusammensetzung der Schmelze, die Temperatur des flüssigen Eisens, die Form, in die gegossen wird. Am PC lässt sich simulieren, wie das Eisen in die Form läuft und sich abkühlt. Rund 50 bis 60 Großgussteile mit einem Gewicht bis zu 100 Tonnen fertigt der Betrieb im Jahr. Die Gehäuse sind mehrere Meter lang. Heute gießt das Team ein Zylinderkurbelgehäuse für einen Zwölfzylindermotor. Dafür sind 76 Tonnen Flüssigeisen nötig. Der fertige Motor wird am Ende in einem Schiff zum Einsatz kommen. Es handelt sich um einen sogenannten Dual-fuel-motor, der Erdgas als auch Flüssigkraftstoffe verbrennen kann.
Plötzlich Bewegung an den Öfen, die das Eisen schmelzen. Ein Greifer zieht den Deckel von den Schmelzöfen, ein letztes Mal entfernen die Männer mit großen Schiebern die Schlacke auf der Oberfläche des flüssigen Metalls. Helles Licht, orange, fast gelb, füllt den Raum. Langsam werden die Öfen angekippt, dann läuft das Eisen geschmeidig wie Limonade in die beiden hohen Pfannen. Zwei Männer steigen auf Leitern, gehüllt in silberne Schutzanzüge gegen die Hitze, Hauben über dem Kopf, sie sehen aus wie Besucher aus fernen Welten. Keine zwei Meter sind sie vom flüssigen Metall entfernt. Ein Funkenregen hüllt die Männer ein, schwe
Metallgeruch liegt in der Luft. Es ist gut, als Besucher Abstand zu wahren.
Die mit flüssigem Eisen gefüllten Pfannen stehen jetzt bereit für den Guss, Fahrzeuge werden sie in die benachbarte Halle fahren.
Neben den Teilen für die eigenen Produkte von MAN Energy Solutions stellt die Gießerei zum Beispiel auch Gehäuse für Großgetriebe her, wie sie in Minen zum Einsatz kommen. Auch wichtige Teile für Wasserkraftoder Windkraftanlagen kann die Gießerei fertigen, berichtet Stephan Briehl, 50, der für den Vertrieb an externe Kunden zuständig ist. Bisher kamen rund zehn Prozent der Aufträge für die Gießerei von außen, sagt er. Das Ziel sei es, diese Quote auf 30 bis 40 Prozent zu erhöhen. Das Geschäft mit Großmotoren schwankt mit der Lage der Weltwirtschaft. Mit ihrem neuen Geschäftskonzept will das Team die Zukunft des Gießerei-standorts mit seinen Arbeitsplätzen sichern. Die Marktchancen seien gut: „In der Corona-krise sind einige Großgießereien vom Markt verschwunden“, berichtet Briehl. Das Ziel sei es, Marktanteile zu sichern. Die Auftragslage bei externen Kunden sei derzeit sehr positiv. „Nach Jahren der Stagnation geht es endlich wieder aufwärts.“Die Gießerei von MAN Energy Solutions zählt derzeit 235 Beschäftigte, die in Bereichen wie der Modellschreinerei, dem
Schmelzbetrieb oder der Klein-, Mittel- und Großgießerei tätig sind.
Die Fahrer haben inzwischen die Pfannen mit dem flüssigen Eisen in eine benachbarte Halle gebracht. Das flüssige Eisen soll dort in die Form gegossen werden. Das heiße Metall leuchtet, sein Glimmen erhellt die Decke der Halle, die sich sonst im Dunklen verliert. Eine Kathedrale der Industrialisierung. Die Halle ist eine der ältesten auf dem Werksgelände, brauner Staub und Ruß hat sich auf den Backstein gelegt. Filteranlagen reinigen die Luft heute aber viel besser und schneller als in früheren Jahren.
„Nach dem Abstechen der Öfen läuft die Zeit“, erklärt Gießereileiter Marco Nagler, einen Helm auf den Kopf. Das Metall kühlt außerhalb des Ofens langsam ab, das Team muss genau den Zeitpunkt erwischen, an dem es 1350 Grad hat. Dann läuft es optimal in die Form. „Nachheizen können wir in den Pfannen nicht“, sagt Nagler. Die Fachleute ziehen die Schlacke vom flüssigen Eisen ab. Funken stieben. Immer wieder prüft das Team die Temperatur. Die Gussform befindet sich tief unter den Füßen. Sie ist in der Woche zuvor aus Sand gefertigt worden, den ein Harz fest wie Sandrer stein werden lässt. Die Hitze des Gusses wird die verklebten Körner in den nächsten Tagen dann wieder lösen.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass das Team die Fertigung von Anfang bis Ende begleitet. Vom Bau der Form in Sand bis zu dem 120 Sekunden dauernden Guss. Kein Zufall ist, dass dieser nachts erfolgt. Nachts ist Strom nicht nur am günstigsten, sondern steht auch reichlich zur Verfügung. Die Gießerei braucht so viel Strom wie mehrere tausend Haushalte. „Ab 2022 arbeiten wir rein mit Ökostrom“, sagt Nagler. Damit leiste die Gießerei ihren Beitrag zum Klimaschutz.
Es dauert, bis das flüssige Eisen langsam bis zur Idealtemperatur herunterkühlt. Zeit für ein Gespräch. Vitus Fischer, 60, arbeitet seit 45 Jahren in der Gießerei. Tausende Motoren hat er gegossen, in 23 Monaten will er in den Ruhestand gehen. Hektik, sagt er, kommt während des Gusses nicht auf. „Jeder weiß, was er zu tun hat.“Die Arbeiter stehen nahe am flüssigen Metall. Fischer hält heute an einem langen Stab die Platte, die verhindert, dass Schlacke in die Form läuft. Heiß ist es dort. „Den Schutzanzug kann man am Ende mit bloßen Händen nicht anfassen“, sagt Fischer. Früher gab es die Anzüge noch nicht, da habe die Kleidung am Ende gedampft. Gefährlich sei die Arbeit nicht. „Wenn man es richtig angeht, passiert nichts“, lautet die Erfahrung des Mannes aus Lauterbrunn bei Welden. „Man darf nur keine Angst haben.“Seit 45 Jahren hat er in keinem anderen Betrieb gearbeitet. „Ich bin immer hier gewesen, es hat mich nicht losgelassen.“
Jedes Jahr bildet die Gießerei Lehrlinge aus, derzeit sind es neun. Mitarbeiter, die einmal hier anfangen, sagt Leiter Nagler, bleiben häufig sehr lange.
Plötzlich kommt Bewegung auf. Das flüssige Eisen hat die Temperatur von 1350 Grad, die Mitarbeiter beziehen ihren Posten. Alles läuft ruhig ab, fast still, hoch konzentriert, routiniert, in zahllosen Produktionsvorgängen eingeübt. Krankolosse an der Hallendecke heben mit Stahlseilen und Haken die Gusspfannen, die Männer hinter den Schutzanzügen treten an Räder, mit denen sich die großen Gefäße leicht senken lassen. Wie aus einem Soßenkännchen fließt das Eisen in ein Becken, dann in die Form tief im Boden. Gewichte darüber, 700 Tonnen schwer, wirken den starken Kräften im Untergrund entgegen. Gießgase, die nach oben dringen, fangen Feuer. Es sieht aus, als ob der Boden brennt.
17 Tage später wird das Team den Sand wegbaggern. Das Gehäuse ist dann noch immer 350 Grad heiß. Erst wenn es sandgestrahlt ist, sieht man, ob alles funktioniert hat.
Die Arbeiter sind sich sicher.
Es sieht aus, als ob der Boden brennt