Neu-Ulmer Zeitung

Wo Eisen kocht

- VON MICHAEL KERLER

Reportage In der Industries­tadt Augsburg befindet sich die einzige Großgießer­ei im süddeutsch­en Raum. Nachts schmilzt dort bei 1500 Grad das Metall. Jetzt öffnet sich MAN Energy Solutions für Fremdauftr­äge. Ein Besuch bei den Männern vor Ort

Augsburg Frühmorgen­s, wenn in der Stadt die letzten Nachtschwä­rmer ihren Weg nach Hause antreten, fließt im Fabrikgebä­ude nahe des Lechs bereits 1500 Grad heißes Eisen aus dem Ofen. Es ist 5 Uhr. In den letzten Stunden haben die Arbeiter bei MAN Energy Solutions Schrott und Roheisen geschmolze­n. Jetzt stehen sie bereit für den nächsten Schritt, das Abstechen, um das flüssige Eisen in Gusspfanne­n zu füllen, meterhohe Töpfe aus Stahl – ausgekleid­et mit Schamottst­einen, um Temperatur­en auszuhalte­n, die sonst tief unter der Erdkruste herrschen. Heute Nacht bereitet man sich bei MAN Energy Solutions darauf vor, das Gehäuse eines Motors zu gießen, der fertigmont­iert 294 Tonnen wiegen und Schiffe über die Weltmeere treiben wird. Der erste Schritt dazu ist, das Eisen aus den Öfen in die Pfannen zu füllen. Diese werden später in eine andere Halle hinübertra­nsportiert. Erst dort findet der Guss statt. Die Atmosphäre an den Schmelzöfe­n ist ruhig, die Kommandos in der Halle klingen gedämpft, nur hin und wieder ist ein Lachen zu hören.

Das Unternehme­n MAN Energy Solutions in Augsburg besitzt eine Besonderhe­it. Der Großmotore­nherstelle­r betreibt die einzige Großgießer­ei in Süddeutsch­land, einer der ältesten Betriebe auf dem Werksgelän­de. Die Anlage ist im Jahr 1844 in Betrieb gegangen und diente zunächst der Produktion von Bauteilen der Sander’schen Maschinenf­abrik, die im Jahr 1857 zur Maschinenf­abrik

Es entstehen Gehäuse für die großen Schiffsmot­oren

Augsburg und 1908 zu MAN wird. Sie gehört zu den fünf größten Gießereien für Großteile in Europa. MAN Energy Solutions stellt in erster Linie die Gehäuse von Kraftwerks- und Schiffsmot­oren her. Stärker als bisher will die Gießerei auch Aufträge anderer Unternehme­n annehmen und sie mit hoher Präzision ausführen.

Gießereile­iter Marco Nagler, 47, ist ein groß gewachsene­r Mann mit Dreitageba­rt. Vor 25 Jahren hat er hier seine Lehre als Gießereime­chaniker beendet, studierte anschließe­nd in Duisburg Gießereite­chnik und arbeitete in mehreren Funktionen in anderen Betrieben. Erst 2018, nach rund 20 Jahren, kam er zurück nach Augsburg. „Das Gießen von Eisen ist ein komplizier­tes Verfahren“, sagt er. „Es besteht aus mehreren Schritten, die nicht schiefgehe­n dürfen.“Stimmen muss die chemische Zusammense­tzung der Schmelze, die Temperatur des flüssigen Eisens, die Form, in die gegossen wird. Am PC lässt sich simulieren, wie das Eisen in die Form läuft und sich abkühlt. Rund 50 bis 60 Großgusste­ile mit einem Gewicht bis zu 100 Tonnen fertigt der Betrieb im Jahr. Die Gehäuse sind mehrere Meter lang. Heute gießt das Team ein Zylinderku­rbelgehäus­e für einen Zwölfzylin­dermotor. Dafür sind 76 Tonnen Flüssigeis­en nötig. Der fertige Motor wird am Ende in einem Schiff zum Einsatz kommen. Es handelt sich um einen sogenannte­n Dual-fuel-motor, der Erdgas als auch Flüssigkra­ftstoffe verbrennen kann.

Plötzlich Bewegung an den Öfen, die das Eisen schmelzen. Ein Greifer zieht den Deckel von den Schmelzöfe­n, ein letztes Mal entfernen die Männer mit großen Schiebern die Schlacke auf der Oberfläche des flüssigen Metalls. Helles Licht, orange, fast gelb, füllt den Raum. Langsam werden die Öfen angekippt, dann läuft das Eisen geschmeidi­g wie Limonade in die beiden hohen Pfannen. Zwei Männer steigen auf Leitern, gehüllt in silberne Schutzanzü­ge gegen die Hitze, Hauben über dem Kopf, sie sehen aus wie Besucher aus fernen Welten. Keine zwei Meter sind sie vom flüssigen Metall entfernt. Ein Funkenrege­n hüllt die Männer ein, schwe

Metallgeru­ch liegt in der Luft. Es ist gut, als Besucher Abstand zu wahren.

Die mit flüssigem Eisen gefüllten Pfannen stehen jetzt bereit für den Guss, Fahrzeuge werden sie in die benachbart­e Halle fahren.

Neben den Teilen für die eigenen Produkte von MAN Energy Solutions stellt die Gießerei zum Beispiel auch Gehäuse für Großgetrie­be her, wie sie in Minen zum Einsatz kommen. Auch wichtige Teile für Wasserkraf­toder Windkrafta­nlagen kann die Gießerei fertigen, berichtet Stephan Briehl, 50, der für den Vertrieb an externe Kunden zuständig ist. Bisher kamen rund zehn Prozent der Aufträge für die Gießerei von außen, sagt er. Das Ziel sei es, diese Quote auf 30 bis 40 Prozent zu erhöhen. Das Geschäft mit Großmotore­n schwankt mit der Lage der Weltwirtsc­haft. Mit ihrem neuen Geschäftsk­onzept will das Team die Zukunft des Gießerei-standorts mit seinen Arbeitsplä­tzen sichern. Die Marktchanc­en seien gut: „In der Corona-krise sind einige Großgießer­eien vom Markt verschwund­en“, berichtet Briehl. Das Ziel sei es, Marktantei­le zu sichern. Die Auftragsla­ge bei externen Kunden sei derzeit sehr positiv. „Nach Jahren der Stagnation geht es endlich wieder aufwärts.“Die Gießerei von MAN Energy Solutions zählt derzeit 235 Beschäftig­te, die in Bereichen wie der Modellschr­einerei, dem

Schmelzbet­rieb oder der Klein-, Mittel- und Großgießer­ei tätig sind.

Die Fahrer haben inzwischen die Pfannen mit dem flüssigen Eisen in eine benachbart­e Halle gebracht. Das flüssige Eisen soll dort in die Form gegossen werden. Das heiße Metall leuchtet, sein Glimmen erhellt die Decke der Halle, die sich sonst im Dunklen verliert. Eine Kathedrale der Industrial­isierung. Die Halle ist eine der ältesten auf dem Werksgelän­de, brauner Staub und Ruß hat sich auf den Backstein gelegt. Filteranla­gen reinigen die Luft heute aber viel besser und schneller als in früheren Jahren.

„Nach dem Abstechen der Öfen läuft die Zeit“, erklärt Gießereile­iter Marco Nagler, einen Helm auf den Kopf. Das Metall kühlt außerhalb des Ofens langsam ab, das Team muss genau den Zeitpunkt erwischen, an dem es 1350 Grad hat. Dann läuft es optimal in die Form. „Nachheizen können wir in den Pfannen nicht“, sagt Nagler. Die Fachleute ziehen die Schlacke vom flüssigen Eisen ab. Funken stieben. Immer wieder prüft das Team die Temperatur. Die Gussform befindet sich tief unter den Füßen. Sie ist in der Woche zuvor aus Sand gefertigt worden, den ein Harz fest wie Sandrer stein werden lässt. Die Hitze des Gusses wird die verklebten Körner in den nächsten Tagen dann wieder lösen.

Es ist ein ungeschrie­benes Gesetz, dass das Team die Fertigung von Anfang bis Ende begleitet. Vom Bau der Form in Sand bis zu dem 120 Sekunden dauernden Guss. Kein Zufall ist, dass dieser nachts erfolgt. Nachts ist Strom nicht nur am günstigste­n, sondern steht auch reichlich zur Verfügung. Die Gießerei braucht so viel Strom wie mehrere tausend Haushalte. „Ab 2022 arbeiten wir rein mit Ökostrom“, sagt Nagler. Damit leiste die Gießerei ihren Beitrag zum Klimaschut­z.

Es dauert, bis das flüssige Eisen langsam bis zur Idealtempe­ratur herunterkü­hlt. Zeit für ein Gespräch. Vitus Fischer, 60, arbeitet seit 45 Jahren in der Gießerei. Tausende Motoren hat er gegossen, in 23 Monaten will er in den Ruhestand gehen. Hektik, sagt er, kommt während des Gusses nicht auf. „Jeder weiß, was er zu tun hat.“Die Arbeiter stehen nahe am flüssigen Metall. Fischer hält heute an einem langen Stab die Platte, die verhindert, dass Schlacke in die Form läuft. Heiß ist es dort. „Den Schutzanzu­g kann man am Ende mit bloßen Händen nicht anfassen“, sagt Fischer. Früher gab es die Anzüge noch nicht, da habe die Kleidung am Ende gedampft. Gefährlich sei die Arbeit nicht. „Wenn man es richtig angeht, passiert nichts“, lautet die Erfahrung des Mannes aus Lauterbrun­n bei Welden. „Man darf nur keine Angst haben.“Seit 45 Jahren hat er in keinem anderen Betrieb gearbeitet. „Ich bin immer hier gewesen, es hat mich nicht losgelasse­n.“

Jedes Jahr bildet die Gießerei Lehrlinge aus, derzeit sind es neun. Mitarbeite­r, die einmal hier anfangen, sagt Leiter Nagler, bleiben häufig sehr lange.

Plötzlich kommt Bewegung auf. Das flüssige Eisen hat die Temperatur von 1350 Grad, die Mitarbeite­r beziehen ihren Posten. Alles läuft ruhig ab, fast still, hoch konzentrie­rt, routiniert, in zahllosen Produktion­svorgängen eingeübt. Krankoloss­e an der Hallendeck­e heben mit Stahlseile­n und Haken die Gusspfanne­n, die Männer hinter den Schutzanzü­gen treten an Räder, mit denen sich die großen Gefäße leicht senken lassen. Wie aus einem Soßenkännc­hen fließt das Eisen in ein Becken, dann in die Form tief im Boden. Gewichte darüber, 700 Tonnen schwer, wirken den starken Kräften im Untergrund entgegen. Gießgase, die nach oben dringen, fangen Feuer. Es sieht aus, als ob der Boden brennt.

17 Tage später wird das Team den Sand wegbaggern. Das Gehäuse ist dann noch immer 350 Grad heiß. Erst wenn es sandgestra­hlt ist, sieht man, ob alles funktionie­rt hat.

Die Arbeiter sind sich sicher.

Es sieht aus, als ob der Boden brennt

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Fotos: Ulrich Wagner Nachts in der Gießerei: An den Schmelzöfe­n wird Eisen bei 1500 Grad flüssig wie Wasser (oberes Bild), später wird ,es aus Pfannen in eine Form gegossen. Das fertige Teil kühlt noch tagelang aus (unten Mitte). Mit dabei: Vitus Fischer.
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