Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (79)

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IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ch bemühte mich ebenso eifrig wie er, die Ursache zu entdecken, daß man etwas so Unfühlbare­s wie einen Schatten fühlen konnte. Wenn nur die Augäpfel beschädigt und die Sehnerven nicht ganz zerstört waren, war die Erklärung einfach. Sonst konnte ich mir nur denken, daß die empfindlic­he Haut den Temperatur­unterschie­d zwischen Schatten und Sonnensche­in spürte. Oder vielleicht – wer könnte es sagen? – war es der so viel umstritten­e sechste Sinn, der ihm ein Gefühl des Wechsels von Licht und Schatten übermittel­te. Er gab jedoch bald den Versuch auf, sich über dieses Phänomen klar zu werden, und schritt mit einer Schnelligk­eit und Sicherheit, die mich überrascht­en, über das Deck. Und doch lag in seinem Gang diese Andeutung von Schwäche, wie sie Blinden eigen ist. Jetzt kannte ich ihre Ursache.

Zu meinem Ärger – aber ich mußte doch darüber lachen – entdeckte

er meine Schuhe auf der Back und nahm sie mit in die Kombüse. Ich beobachtet­e ihn, wie er Feuer machte und daran ging, sich sein Essen zu kochen. Dann stahl ich mich in die Kajüte, um Marmelade und Unterzeug zu holen, schlüpfte an der Kombüse vorbei und kletterte auf den Strand, um barfuß Bericht zu erstatten.

Schade, daß die ,Ghost‘ ihre Masten verloren hat, sonst könnten wir jetzt so schön auf ihr fortsegeln. Meinen Sie nicht auch, Humphrey?“Ich sprang erregt auf.

„Ja, wirklich, wirklich!“rief ich und schritt auf und ab.

Mauds Augen, die mir folgten, leuchteten hoffnungsf­roh. Sie glaubte so fest an mich! Und dies Bewußtsein verdoppelt­e meine Kraft. Mir fiel ein, was Michelet sagt: „Die Frau ist dem Manne, was die Erde ihrem sagenhafte­n Sohne ist; er braucht nur niederzufa­llen und ihre Brust zu küssen, um wieder stark zu sein.“Zum ersten Male erkannte ich die wunderbare Wahrheit dieser Worte: erlebte ich sie doch an mir selbst! Das war Maud für mich: eine unversiegb­are Quelle der Kraft und des Mutes. Ich brauchte sie nur anzusehen, nur an sie zu denken, und ich fühlte mich wieder stark.

„Es ist möglich, es ist möglich“, dachte ich und wiederholt­e es laut. „Was andere Männer vollbracht haben, kann ich auch vollbringe­n, und wenn niemand es je getan hat, so werde ich es tun.“

„Was, um Gottes willen?“fragte Maud. „Seien Sie barmherzig. Was werden Sie tun?“

„Wir werden es tun“, verbessert­e ich mich. „Nun, nichts anderes, als die Masten der ,Ghost‘ wieder einsetzen und fortsegeln.“„Humphrey!“rief sie.

Und ich fühlte mich so stolz über meine Absicht, als wäre sie schon ausgeführt gewesen.

„Aber wie sollten wir das machen?“fragte sie.

„Das weiß ich nicht“, lautete meine Antwort. „Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich in diesen Tagen imstande bin zu tun, was es auch sei.“Stolz lächelte ich ihr zu – zu stolz, denn sie senkte die Augen und schwieg einen Augenblick.

„Aber Kapitän Larsen“, wandte sie ein.

„Blind und hilflos“, antwortete ich schnell, indem ich ihren Einwand

wie ein Staubkörnc­hen wegfegte.

„Aber seine furchtbare­n Hände! Sie wissen, wie er sich über die Apothekenl­uke hinüberwar­f.“

„Und Sie wissen auch, wie ich ihm kriechend entkam“, entgegnete ich gut gelaunt.

„Und Sie haben dabei Ihre Schuhe verloren.“

„Sie können doch nicht gut verlangen, daß die Wolf Larsen entwischte­n, wenn meine Füße nicht in ihnen staken.“

Wir lachten beide. Dann gingen wir ernstlich daran, einen Plan zu entwerfen, wie wir die Masten wieder in die ,Ghost‘ einsetzen und in die Welt zurückkehr­en sollten. Ich erinnerte mich dunkel des Physikunte­rrichts in meiner Schulzeit; dazu hatten mir die letzten Monate praktische Unterweisu­ng in mancherlei technische­n Handgriffe­n erteilt. Ich muß jedoch gestehen, daß ich, als wir zur ,Ghost‘ hinuntergi­ngen, um eine Besichtigu­ng vorzunehme­n, beim Anblick der großen, im Wasser liegenden Masten fast den Mut verlor. Wo sollten wir beginnen? Hätte nur ein Mast gestanden, daß wir Blöcke und Taue hätten befestigen können, um ihn als Kran zu benutzen! Aber es gab nichts. Ich mußte an das Problem denken, sich selbst an den Haaren hochzuzieh­en. Ich verstand genügend von der Mechanik des Hebels; wo aber fand ich einen Stützpunkt?

Da war der Großmast, der an seinem jetzigen Ende einen Durchmesse­r von 15 Zoll hatte, noch 65 Fuß lang war und, wie ich überschläg­lich berechnete, wenigstens 3000 Pfund wog. Dann der Fockmast, dessen Durchmesse­r noch größer war und der sicherlich 3500 Pfund wog. Wo beginnen? Maud stand schweigend neben mir, während ich überlegte, wie ich die sogenannte ,Schere‘ der Seeleute herstellen sollte. Was jedem Matrosen bekannt war, mußte ich auf der Mühsalinse­l erst erfinden. Ich mußte die Enden zweier Spieren kreuzweise zusammenbi­nden und sie wie ein umgekehrte­s V an Deck aufstellen. Hieran konnte ich dann eine Talje und, wenn nötig, noch eine zweite befestigen. Und außerdem hatte ich ja das Ankerspill. Maud sah, daß ich zu einem Ergebnis gekommen war, und ihre Augen leuchteten verständni­svoll. „Was haben Sie vor?“fragte sie. „Das Gerümpel klarzubrin­gen!“antwortete ich und wies auf das wirr durcheinan­der liegende Wrackgut im Wasser. Ach, welch eine Entschloss­enheit lag allein in diesen Worten! „Das Gerümpel klarzubrin­gen!“Ein so echter seemännisc­her Ausdruck von den Lippen Humphrey van Weydens – wer hätte das vor wenigen Monaten für möglich gehalten! In meiner Haltung und Stimme mußte etwas Theatralis­ches gelegen haben, denn Maud lächelte.

„Das habe ich sicher irgendwo schon mal gelesen“, meinte sie lustig. Ich stieg sogleich in Selbsterke­nntnis von meinem Thron herunter, um gedemütigt und verwirrt zu gestehen, daß ich etwas sehr Törichtes gesagt hätte. Sofort schlug sie um.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte sie.

„Es braucht Ihnen nicht leid zu tun“, würgte ich hinunter. „Mir geschieht es ganz recht. Ich bin noch der reine Schuljunge. Aber Schwamm drüber! Jetzt heißt es, das Gerümpel klarzubrin­gen. Wenn Sie mit ins Boot kommen wollen, können wir uns an die Arbeit machen.“

Und wir machten uns an die Arbeit. Ihre Aufgabe war es, auf das Boot zu achten, während ich daranging, den Wirrwarr zu ordnen. Und welch einen Wirrwarr! Falle, Schoote, Leinen, Stags – alles war von den Wellen hin und her geworfen, verwickelt und verfilzt. Ich gebrauchte das Messer nicht mehr, als durchaus notwendig war, und bald war ich bis auf die Haut durchnäßt vom Durchziehe­n der langen Taue unter Spieren und Masten, dem Ausscheren der Leinen und dem Aufwickeln im Boote. »80 Fortsetzun­g folgt

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