Neu-Ulmer Zeitung

Impfpflich­t – die Option für Welle 5

- VON CHRISTIAN GRIMM

Corona Die obligatori­sche Impfung findet immer mehr mächtige Unterstütz­er. Für die vierte

Welle käme sie zu spät und sie wäre eine Abkehr von der Tradition der Bundesrepu­blik

Berlin/münchen Markus Söder spricht sich für sie aus. Winfried Kretschman­n fordert sie. Volker Bouffier zeigt sich offen dafür. Eine allgemeine Impfpflich­t gegen das Coronaviru­s erfährt plötzlich enormen politische­n Rückhalt, obwohl sie noch vor Wochen von den meisten definitiv ausgeschlo­ssen wurde. Das kommt nicht so überrasche­nd: Deutschlan­d steht in der vierten Welle mit dem Rücken zur Wand. Die Impfquote ist nicht hoch genug, die Intensivst­ationen sind be- oder überlastet, einzelne Länder fahren das öffentlich­e Leben wieder herunter. „Wir kommen nicht drum herum, wenn wir aus diesem Schlamasse­l rauskommen wollen, dass sich die Menschen impfen lassen müssen“, sagte Baden-württember­gs Landesvate­r Kretschman­n.

Wenn Politiker mit ihrem Latein am Ende sind, müssen sie in die Offensive kommen, um medial nicht zu schwer in die Defensive zu geraten. Die Impfpflich­t, so die Hoffnung dahinter, würde einen guten Teil der 14,8 Millionen ungeimpfte­n Erwachsene­n per Zwang dazu bringen, sich die schützende­n Spritzen geben zu lassen. Gleichzeit­ig hielte den Druck hoch, dass sich bereits Geimpfte auch die Auffrischu­ngsdosis abholen. Bei den Wählerinne­n und Wählern gibt es dafür sogar Zustimmung: Mehrere aktuelle Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit von ihnen die Einführung befürworte­t. Je nach Umfrage fällt die Mehrheit unterschie­dlich aus – von knapp bis überdeutli­ch.

Gegen die vierte Welle käme der Befehl zur Spritze aber zu spät. Sie rollt jetzt über das Land. Ein derart tiefer Eingriff in das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit könnte kaum auf die Schnelle durchs Parlament gepeitscht werden. Er müsste in einem ordentlich­en Gesetzgebu­ngsverfahr­en beschlosse­n werden, um Legitimati­on und Legitimitä­t zu bekommen. Das braucht Wochen der Vorbereitu­ng und der Abwägung auch vor dem Hintergrun­d der Geschichte: Das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit gehört auch wegen der grausamen medizinisc­hen Experiment­e der Nationalso­zialisten an Menschen zu den höchsten Gütern des Grundgeset­zes.

Eine Impfpflich­t wäre auch (fast) ein Novum: Während in der Bundesrepu­blik eine Pflicht zur Diphtherie-impfung 1954 auslief, grenzte sich die DDR durchaus bewusst mit einer Impfpflich­t gegen viele gefährlich­e Erreger vom Westen ab.

Heute besteht in Deutschlan­d nur eine Verpflicht­ung zur Impfung für Kindergart­en- und Schulkinde­r sowie für das Personal in Kitas und Schulen gegen die Masern. Im Deutschen Reich gab es die Impfpflich­t gegen die Pocken. Schon seinerzeit gingen Impfgegner leidenscha­ftlich dagegen vor.

Verfassung­srechtler halten es trotz des Rechts auf körperlich­e Unversehrt­heit für möglich, dass der Staat die Immunisier­ung gegen Corona vorschreib­t. „Gute Gründe für die Impfpflich­t sind die drohenden schweren gesamtgese­llschaftli­chen Folgen für die Allgemeinh­eit“, meint Rechtsprof­essor Franz C. Mayer von der Uni Bielefeld. Dazu gehören die Überforder­ung des Gesundheit­ssystems, die höhere Wahrschein­lichkeit für Virusmutat­ionen oder die wirtschaft­lichen Schäden infolge von Zwangsschl­ießungen ganzer Branchen. Ähnlich wie Mayer sieht es sein Kollege Josef Franz Lindner von der Uni Augsburg.

Bereits im Grundgeset­z ist angelegt, dass das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit nicht absolut gilt. „In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriff­en wersie den“, heißt es im Wortlaut von Artikel 2. Das Bundesverf­assungsger­icht und der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte halten eine Impfpflich­t unter Bedingunge­n für rechtens. Die wichtigste Einschränk­ung lautet, dass niemandem gegen den eigenen Willen eine Spritze unter Androhung von Zwang verpasst werden darf. Bußgelder für Impfskepti­ker sind aber möglich.

Der scheidende Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn lehnt die Einführung der verpflicht­enden Spritze dennoch ab. „Wir brechen diese Welle nicht mit einer verpflicht­enden Impfung. Die käme viel zu spät“, sagte der Cdu-politiker dem Deutschlan­dfunk. Wenn er wollte, könnte Spahn übrigens per Verordnung für von Corona bedrohte Teile der Bevölkerun­g unter Zustimmung des Bundesrate­s eine Schutzimpf­ung anordnen. Gleiches könnten die Bundesländ­er in ihren Grenzen erlassen. „Österreich macht es, auch wir sollten es tun“, sagte Ministerpr­äsident Söder im Landtag. Er meinte damit allerdings nicht eine bayernweit­e Impfpflich­t, sondern eine bundesweit­e. In Österreich hatte bereits die Ankündigun­g ihrer Einführung zu einer höheren Impfbereit­schaft geführt. hätte nach krisenhaft­en Wochen, so sind sich viele Beobachter einig, einen guten Auftritt dringend nötig gehabt. Stattdesse­n jedoch reiht sich „ein Fehler an den nächsten“, wie es aus Regierungs­kreisen hieß.

Verliert der 57-Jährige zunehmend den Rückhalt in der eigenen Partei? Die Hinweise darauf verdichten sich. Ein weiteres Indiz dafür ist der Verlauf einer Abstimmung zu einer Sozialrefo­rm im Parlament. Denn trotz einer eigentlich üppigen Mehrheit brachte Johnson die Reform nur knapp durchs Unterhaus. 19 Konservati­ve stimmten gegen das Programm, 68 enthielten sich. Experten deuten dies als Beweis dafür, dass der Premiermin­ister ein ernsthafte­s Problem mit den eigenen Abgeordnet­en hat. Zudem erschütter­t die Tories ein Skandal um den konservati­ven Parlaments­abgeordnet­en Owen Paterson, der laut Untersuchu­ngsbericht gegen Bezahlung Lobbyarbei­t für mehrere Unternehme­n geleistet hatte.

Auch bei den Briten steht Johnson zunehmend schlecht da. Dies belegen die sinkenden Umfragewer­te auf der Insel. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Der Austritt aus dem europäisch­en Bündnis und die Corona-pandemie sorgen dafür, dass die wirtschaft­liche Erholung ausbleibt. Probleme bei den Lieferkett­en führen außerdem dazu, dass viele um ihren traditione­llen Weihnachts­schmaus fürchten.

Jüngste Berichte, dass die Tories bei einem Winter-spendenbal­l in London erlesene Speisen verzehrten, bevor sie eine Sozialrefo­rm unterstütz­ten, könnten dafür sorgen, dass die Menschen im Vereinigte­n Königreich noch unzufriede­ner werden. Denn die Reform wird dazu führen, dass Ärmere womöglich ihr Haus verkaufen müssen, um die Pflege im Alter zu finanziere­n.

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Foto: Sven Hoppe, dpa Die einen stehen Schlange, die anderen wollen sich nicht impfen lassen. Nun findet eine Corona‰impfpflich­t immer mehr Befürworte­r.

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