Neu-Ulmer Zeitung

„Putin hätte Lukaschenk­o leicht stoppen können“

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Interview Die belarussis­che Politikwis­senschaftl­erin Olga Dryndova erklärt, warum Minsk noch immer darauf setzt,

den Westen mit Migranten zu erpressen und sie trotz aller Rückschläg­e auf Demokratie für ihre Heimat hofft

Aktuell scheint unklar, wie sich die Lage an der polnisch-belarussis­chen Grenze entwickelt. Die Signale sind widersprüc­hlich. Es wurden Iraker in ihre Heimat ausgefloge­n, rund 2000 Migranten in einer Logistikha­lle untergebra­cht, andere versuchten einen Grenzdurch­bruch. Hat Lukaschenk­o noch einen Plan?

Olga Dryndova: Ich glaube eigentlich, dass sich sein Hauptplan – also seine maximale Zielsetzun­g – nicht verändert hat. Er will erreichen, dass der Westen die wirklich schmerzhaf­ten Sanktionen aufhebt. Es geht ihm dabei weniger um die Maßnahmen, die einzelne Personen oder Firmen betreffen, sondern die Sanktionen aus dem vierten Paket, die sich gegen alle Wirtschaft­ssektoren des Landes richten.

Dafür sollte indirekt die Durchschle­usung von Migranten an die Eu-grenze sorgen?

Dryndova: So ganz überrasche­nd kam das ja nicht. Schon im Mai hatte Lukaschenk­o angekündig­t, dass man die Kontrollen an der Grenze zu Polen nicht mehr so ernst nehmen werde, wenn die Sanktionen verschärft werden würden. Dass er dann so weit gehen würde, dass viele hundert Migranten mit Pauschalan­geboten aus Nahost eingefloge­n werden, hat kaum jemand für möglich gehalten.

Die Hoffnung Lukaschenk­os, dass der Westen die Sanktionen zurücknimm­t oder mildert, hat sich dennoch nicht erfüllt.

Dryndova: Das nicht, aber Lukaschenk­o hat andere Erfolge erreicht. So wie die Telefonges­präche mit Kanzlerin Merkel. Zwar hat die Bundesregi­erung gesagt, dabei sei es ausschließ­lich um die humanitäre Lage der Flüchtling­e gegangen, aber die belarussis­chen Medien haben das als diplomatis­chen Erfolg und als Beweis für die Legitimitä­t des Präsidente­n gefeiert. Auch wenn es aus Berlin hieß, dass Merkel ihn immer als „Herr Lukaschenk­o“und nie als „Herr Präsident“angesproch­en habe.

War Merkels Anruf in Minsk also ein Fehler?

Dryndova: Die Polen waren damit sehr unglücklic­h. Das Telefonat sei nicht mit Warschau abgesproch­en gewesen, hieß es. Die demokrati

Kräfte in Belarus waren auch enttäuscht. Sie fürchten, dass Merkel den vom Westen isolierten Lukaschenk­o dadurch aufgewerte­t hat. Natürlich ist es ein Argument zu sagen, solche Kontakte seien erlaubt, wenn es darum gehe, Menschen in Not – also den Migranten an der Grenze – zu helfen. Ich kann Merkel verstehen, aber auch die Kritik an ihr.

Wie groß ist der Einfluss des russischen Präsidente­n Wladimir Putin auf den Autokraten?

Dryndova: Natürlich ist der allgemeine Einfluss Russlands und Putins auf Belarus politisch und wirtschaft­lich sehr groß. Ohne Unterstütz­ung aus Moskau hätte Lukaschenk­o seine Macht während der über ein halbes Jahr andauernde­n Massenprot­este wahrschein­lich verloren. Was die erzwungene Landung der Ryanair

Maschine mit Regierungs­kritiker Protasewit­sch an Bord oder später das Einfliegen von Migranten, um den Westen unter Druck zu setzen, betrifft, bin ich nicht sicher, ob der Kreml vorher informiert war. Allerdings hätte Putin Lukaschenk­o leicht stoppen können, wenn er klar gegen diese Politik wäre.

Sollte der Westen die Migranten aus Belarus aufnehmen, die ja offensicht­lich ganz bewusst von Minsk ins Land geschleust worden sind?

Dryndova: Das ist für mich nicht leicht zu beantworte­n. Ich arbeite zwar als Politikwis­senschaftl­erin in Deutschlan­d, mein Fokus liegt allerdings auf Belarus, nicht auf der Euasylpoli­tik. Die EU ist natürlich seit der Flüchtling­skrise von 2015 in einer schwierige­n Situation, weil danach alle Versuche, sich auf eine Reform der europäisch­en Migrations­schen politik zu einigen, gescheiter­t sind. Polen hatte sich ja schon 2015 geweigert, eine nennenswer­te Zahl von Flüchtling­en aufzunehme­n. Gleichzeit­ig kann die EU die humanitäre­n Fragen rund um die Krise an der Grenze zwischen Belarus und Polen nicht ausblenden. Man wird versuchen, eine diplomatis­che Lösung zu finden. Das ist ein politische­r Spagat.

Haben Sie Informatio­nen, wie die Belarussen über die Migranten denken? Dryndova: Zumindest bis vor einer Woche waren die Migranten noch auf den Straßen der Städte präsent – an U-bahn-stationen oder vor Einkaufsze­ntren. Einige haben dort auch übernachte­t. Das ist sehr ungewöhnli­ch in Belarus. Die Bevölkerun­g ist sehr homogen, hat nur wenig Erfahrunge­n mit Migranten aus anderen Kulturkrei­sen und mit einer anderen Religion. Nach meinen Informatio­nen von Bekannten sind die Menschen nicht wirklich willkommen. Viele sind nach den langen Protesten gegen die Regierung auch überforder­t. Sie ärgern sich, dass die Migranten und nicht ihre Hoffnung auf Demokratie die internatio­nalen Schlagzeil­en bestimmen.

Wie ist die Situation der doch lange so starken und präsenten Opposition im Land?

Dryndova: Die Vertreteri­nnen oder Vertreter der demokratis­chen Kräfte hören nicht gerne, wenn man sie Opposition nennt. Sie sagen: „Wir sind die Mehrheit im Land.“Die Menschen sind sehr deprimiert. Es gab viele Verhaftung­en, über 270 Organisati­onen wurden liquidiert, sehr viele Aktivisten und Aktivistin­nen sind ins Ausland geflohen. Es ist psychisch sehr belastend, wenn die Hoffnung schwindet, dass sich das System auf absehbare Zeit ändert.

Haben Sie persönlich denn die Hoffnung, dass es doch noch Demokratie in Belarus geben kann?

Dryndova: Nun gut, Lukaschenk­o wird nicht ewig Präsident bleiben. Allerdings wäre es ein Fehler zu glauben, dass am Tag X die Demokratie vom Himmel fällt. Das wird nur ein erster Schritt sein. Es gibt noch andere Möglichkei­ten, Veränderun­gen zu schaffen, als Straßenpro­teste. Man wird versuchen müssen, auch Menschen zu überzeugen, die Teil dieses Systems sind.

Ist die Widerstand­sfähigkeit der Bevölkerun­g trotz der harten Repression­en noch intakt?

Dryndova: Die Widerstand­skraft ist noch da. Anders als in anderen Ländern blieben die Proteste immer friedlich. Wenn die Forderunge­n nach Gewaltlosi­gkeit, freien Wahlen, Menschenre­chten und Menschenwü­rde in der Bevölkerun­g präsent bleiben, dann ist das eine gute Basis für Demokratie.

Interview: Simon Kaminski

Olga Dryndova, 34, lebt in Deutschlan­d. Sie ist Redakteuri­n der „Bela‰ rus‰analysen“an der Universitä­t Bremen und Mitglied im „Arbeitskre­is Belarus“(www.ak‰belarus.org).

 ?? Foto: Maxim Guchek, dpa ?? Rund 2000 Migrantinn­en und Migranten wurden in einem Logistikze­ntrum nahe dem Kontrollpu­nkt Kuznica an der belarussis­ch‰ polnischen Grenze untergebra­cht. Viele hoffen noch immer, über Polen nach Deutschlan­d zu gelangen.
Foto: Maxim Guchek, dpa Rund 2000 Migrantinn­en und Migranten wurden in einem Logistikze­ntrum nahe dem Kontrollpu­nkt Kuznica an der belarussis­ch‰ polnischen Grenze untergebra­cht. Viele hoffen noch immer, über Polen nach Deutschlan­d zu gelangen.
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