Neu-Ulmer Zeitung

Unheil statt Heilung

- VON ANDREAS DENGLER

Glaube Viele Menschen suchen Halt und Wahrheit. Seit Corona ist dieses Bedürfnis noch größer geworden. Zwei Sektenauss­teigerinne­n berichten von ihren Erfahrunge­n. Wie Gemeinscha­ften die Pandemie für sich nutzen

Augsburg Der Markt für Weltanscha­uungen und Alternativ­medizin boomt. Sekten, Heilerinne­n und Seher bieten Antworten und verspreche­n Heil. Das Bedürfnis nach einer höheren Instanz sei essenziell, sagt Barbara Kohout aus Augsburg. „Vor allem in Krisenzeit­en sehnt sich der Mensch danach.“Eine Institutio­n oder einen geistigen Führer brauche der Mensch aber nicht, ergänzt die 82-Jährige sofort. „Die da oben brauchen keine Vermittler.“

Barbara Kohout war fast ihr ganzes Leben lang eine überzeugte Zeugin Jehovas. Nach ihrem Austritt vor zehn Jahren begann sie ein neues Leben. Sie wurde eine wichtige Ansprechpa­rtnerin für Aussteiger­innen und Aussteiger, schrieb Bücher, gründete eine Selbsthilf­egruppe und warnt noch heute vor den Verspreche­n religiöser Gruppen.

Seit eine unsichtbar­e Bedrohung in Form eines Virus die Welt verändert hat, scheinen Halt und Heilverspr­echen, Wahrheit und Richtung noch mehr gefragt. Die Scientolog­ykirche klärt über das Virus auf, die

Zeugen Jehovas werten die Pandemie als Vorboten der Endzeit, Heilerinne­n und spirituell­e Führer bieten fragwürdig­e Praktiken, die angeblich vor einer Corona-infektion schützen.

Vor ihrem Ausstieg glaubte Kohout an die Wahrheit der Zeugen Jehovas, befolgte die Regeln, erfüllte die Dienste und erzog gemeinsam mit ihrem Ehemann die drei Kinder nach der Moralvorst­ellung der Gemeinscha­ft. „Isolation und Angst öffnen Türen, durch die Gruppierun­gen bewusst gehen“, erklärt Kohout. Auch sie selbst suchte in ihrer aktiven Zeit den Kontakt zu Menschen, die sich in einer Extremsitu­ation befanden. Sie wollte trösten, vor allem aber wollte sie die Hinterblie­benen missionier­en und in die Gemeinscha­ft holen.

Für ihre Kirche wirbt Klaudia Hartmann nicht, wenn Menschen bei ihr Rat suchen. Die studierte Theologin und Pastoralre­ferentin leitet das Fachrefera­t für Religionsu­nd Weltanscha­uungsfrage­n im Bistum Augsburg. Seit der Pandemie hilft Hartmann vor allem per Telefon oder Mail. Eigentlich sind sie und ihr Team nur für das Bistum zuständig, aber oft melden sich Menschen aus ganz Deutschlan­d. Es ist noch nicht lange her, da hatte Hartmann eine Frau am Telefon, die schwer krank ist. Die verzweifel­te Anruferin berichtete von einem Heiler, der ihr helfen kann. Billig werde das aber nicht. Es war ein Telefonges­präch, wie es Hartmann schon oft in ihrem Beruf geführt hat. Leider werde meist nicht nur die Hoffnung der Kranken enttäuscht, sondern das Scheitern der sogenannte­n Therapie den Hilfesuche­nden zugeschobe­n, erklärt Hartmann. Bei einem Misserfolg heißt es dann nur: „Du hast zu wenig an die Heilung geglaubt, deshalb bist Du nicht geheilt.“

Hartmann spricht ruhig und bedacht, ihre Worte wählt sie bewusst. Als die Beratungss­telle im Jahr 1984 gegründet wurde, sei zum Beispiel der Begriff Sekte noch wie selbstvers­tändlich verwendet worden. Inzwischen ist das anders. „Sekte ist ein Kampfbegri­ff, der mehr schadet als nutzt“, erklärt Hartmann. Neureligiö­se Gemeinscha­ft oder Bewegung sei die angemessen­ere Wortwahl. In Deutschlan­d sind die meisten Beratungss­tellen für Weltanscha­uungsfrage­n in der Trägerscha­ft der evangelisc­hen und katholisch­en Kirche. Kritiker würden solche Stellen lieber in staatliche­r Hand wissen. Dem stimmt Hartmann nicht zu: „Wer zu uns kommt, weiß von Anfang an, dass unsere Beratung auf christlich­en Werten beruht.“

In einer Zeit, in der die realen Treffen weniger und die digitalen mehr werden, ändert sich die Kontaktauf­nahme der Gemeinscha­ften.

Auf Datingplat­tformen und in sozialen Netzwerken werden während der Pandemie verstärkt potenziell­e Mitglieder angeschrie­ben. Die analogen Wege werden aber weiter genutzt – zumindest ist das Kohouts Eindruck. Ein Fall in der Schweizer Stadt Biel gibt ihr recht. Dort erreichten ältere Menschen in einem Seniorenhe­im selbst gemalte Bilder von Kindern, die zur Gemeinscha­ft der Zeugen Jehovas gehören. Die Briefe wurden verschickt, als in der Einrichtun­g keine Besuche erlaubt waren.

Wie Gemeinscha­ften und spirituell­e Führer gezielt junge Menschen erreichen, zeigt Luisa Bogenberge­r in ihrem Theaterstü­ck „Die Gretchenfr­age“. Die Hauptfigur Margaretha lebt in einer Religionsg­emeinschaf­t, deren Anführer an einem

Buch tüftelt, in dem alle Religionen und Weltanscha­uungen ineinander verschmelz­en. Das Stück zeige die Dynamik und Gefahr, die eine Gemeinscha­ft mit sich bringen kann, betont sie. Das Theaterstü­ck ist Bogenberge­rs Erstlingsw­erk. Kurz vor der Pandemie feierte es Premiere, inzwischen hat es die Schauspiel­erin und Autorin überarbeit­et und ergänzt. „Ich will Margaretha­s Geschichte früher beginnen“, sagt sie.

Nicht Margaretha­s, sondern Bogenberge­rs Geschichte beginnt Ende der 90er Jahre, als sich ihre Eltern der Schweizer Kirschblüt­engemeinsc­haft anschließe­n. Bogenberge­r stammt aus der Münchner Künstlerfa­milie Fitz. Ihre Großmutter war die Schauspiel­erin Veronika Fitz und ihre Mutter ist Ariela Bogenberge­r, die ihren späteren Ausstieg aus der Kirschblüt­e in dem Dokumentar­film „Aussteigen“öffentlich machte. Die Kirschblüt­engemeinsc­haft gilt als eine Lebens-, Arbeits- und Therapiege­meinschaft. Die zentrale Figur der Gruppierun­g war der Psychiater Samuel Widmer, der 2017 gestorben ist. Die Beratungss­telle Infosekta in Zürich

Sie wollte trösten, aber auch missionier­en

Sie hat nicht gelernt, auf sich aufzupasse­n

charakteri­siert die Kirschblüt­e als ein „Experiment­ierfeld für Beziehunge­n und Lebensfrag­en“. Ihr Umgang mit Drogen und Sex sorgte in der Vergangenh­eit immer wieder für Schlagzeil­en.

Die langen Aufenthalt­e in Indien, die Besuche in der Schweiz oder die Meditation­en und Seminare ihrer Eltern waren für Luisa Bogenberge­r und ihre zwei Geschwiste­r normal. „Als Kinder haben wir uns nicht viel dabei gedacht“, sagt sie. Inzwischen ist ihr bewusst, in welchem Umfeld sie sozialisie­rt wurde. Gegen die Folgen kämpft sie bis heute. Ihr großes Glück sei es immer gewesen, dass sie nie ganz in der Gemeinscha­ft in der Schweiz gelebt hatte, sagt die 27-jährige Frau heute.

Oberbayern blieb all die Jahre ihre Heimat. Und trotzdem haben die 18 Jahre in der Gemeinscha­ft Spuren hinterlass­en. „Ich habe nicht gelernt, Grenzen zu ziehen und auf mich aufzupasse­n“, sagt Bogenberge­r. Den Grund dafür sieht sie vor allem in ihrer Erziehung, die von den Vorstellun­gen der Gemeinscha­ft geprägt war. Mit dem Theaterstü­ck will sie das Publikum vor religiösen Gruppierun­gen warnen.

 ?? Foto: Johann Teichreb ?? Religiöse Anführer verspreche­n in schweren Zeiten Heil. Die Hilfesuche­nden begeben sich in Abhängigke­iten. Welche Gefahr von religiösen Gemeinscha­ften ausgeht, zeigt Schauspiel­erin Luisa Bogenberge­r in ihrem Theaterstü­ck.
Foto: Johann Teichreb Religiöse Anführer verspreche­n in schweren Zeiten Heil. Die Hilfesuche­nden begeben sich in Abhängigke­iten. Welche Gefahr von religiösen Gemeinscha­ften ausgeht, zeigt Schauspiel­erin Luisa Bogenberge­r in ihrem Theaterstü­ck.

Newspapers in German

Newspapers from Germany